6638673-1957_31_08.jpg
Digital In Arbeit

Die Roboter sind schon unter uns

Werbung
Werbung
Werbung

DIE KLEINE LIESL, vierjährige Tochter einer Bekannten in P., definierte unlängst in sehr prägnanter Weise die Einstellung des Menschen von heute zur Technik von heute. Was sie denn für ein Musikinstrument lernen wolle, fragte die Mama, Klavier wie der ältere Bruder oder Geige vielleicht? „Gar nichts lern’ ich“, erklärte die Liesl sehr bestimmt. „Ich werf einen Schilling hinein und hör zu.“ Womit die Debatte für sie beendet war. Bemerkenswert erschien uns Erwachsenen an dieser Antwort neben deren Inhalt vor allem der Tonfall, in dem sie gegeben wurde: weder widerspenstig noch altklug, sondern bloß als Hinweis auf eine selbstverständliche Tatsache, über die man nicht diskutiert.

Diese Tatsache des Schilling-hinein-Werfens deutet nur eine vorläufige Station einer noch lange nicht abgeschlossenen Entwicklung an, die uns — denken wir nach — fast zu Entsetzen Anlaß geben müßte. Denn sie geht so schnell vor sich, daß wir uns ihrer Resultate oft erst bewußt werden, wenn sie schon wieder überholt sind: Obwohl der mit Talent und Eifer Klavier spielende Bruder jener Vierjährigen nur drei Jahre älter ist als sie, gehört er genau genommen noch einer anderen Generation an. Als er begann, die Bilder der Umgebung und des Alltags bewußt in sich aufzunehmen, stand in jenem niederösterreichischen Ort noch kein Musikautomat, und das eindrucksvolle Bild der Mutter, die aus dem Klavier mit ihren Händen Musik zauberte, war für die Bereitschaft des Buben zum Klavierspiel sicherlich mit maßgebend. Als aber die kleine Liesl zum ersten Male im Kreise der Familie an einem Samstagnachmittag im nahen Gasthaus wie die Großen ein Soda-Himbeer bestellen durfte, röhrte schon der Automat die Begleitmusik. Und mit dem chromblitzenden, magisch erleuchteten Wur- litzer kann ein hölzernes Klavier in der kindlichen Einbildungskraft nicht konkurrieren. Das ist das Resultat der Automation der Dorfmusik: die Vierjährige wird nicht mehr von der Leistung fasziniert, von der Tatsache, daß jemand einem Holzkasten mit den Fingern wundersame Töne entlockt, sondern bedauert den Bruder, weil er Etüden spielen muß, anstatt einfach einen Schilling „hinein“ zu werfen und zuzuhören.

DIE AUTOMATEN, die Roboter, sind schon .unter uns. „Automation“ ist für viele von uns nicht mehr nur ein Schlagwort, sondern handgreifliche Wirklichkeit. Was gestern noch Ziel kostspieliger Laboraxoriumsversuche war, ist heute Behelf zur Produktionssteigerung. Was uns, als wir Buben waren, Spielzeug war und Kuriosität, ist in unseren Tagen bereits Gegenstand des täglichen Gebrauchs. Die Elektronen sind die guten — und bösen — Geister unserer Jahrhunderthälfte, die Heinzelmännchen, Feen, Hexen und Zauberer des Atomzeitalters. Wozu Mathematiker mit Papier, Bleistift und Logarithmentafel Jahre brauchen würde, rechnen sie in Sekunden aus. Sie überwachen und steuern etwa in einer Motorenfabrik in Cleveland die Fertigung von eintausendzweihundertfünfzig Motoren im Tag: die riesige Werkshalle, in der siebenundvierzig große Maschinen pausenlos arbeiten, ist fast menschenleer. Ein paar Männer nur gehen das Fließband entlang und einige Weißbemäntelte überwachen in einer gläsernen Kabine Skalen, Oszillographen, Lämpchen, Hebel und Taster. Elektronen-„Gehirne“ berechnen Löhne, Pensionen, Preise oder Versicherungsprämien: jene amerikanischen Versicherungsgesellschaften, die in letzter Zeit kleinere Elektronenrechenmaschinen installierten, schätzen, daß jeder dieser Automaten zumindest zweihundert Angestellte und ein zehnstöckiges Büro- und Archivgebäude erspart. Und Elektronen steuern Raketen, die H-Bomben mit mehrfacher Schallgeschwindigkeit von Kontinent zu Kontinent tragen können ... die Bomberpiloten werden arbeitslos. Sie wären ja doch nur Unsicherheitsfaktoren in dieser Welt der Roboter.

Um im Lande zu bleiben: In Oestwreich arbeitet noch keine Fabrik ohne Arbeiter, weil die Installierung einer elektronischen Steueranlage noch zu teuer ist. Aber man könnte in jüngster Zeit schon ab und zu Großinserate in den „Offene-Stellen"-Rubriken finden, in denen Elektronentechniker „für interessante Tätigkeit auf dem Gebiet der Automation" gesucht wurden. Die Armee der modernen Roboter hat ihre ersten Vorausabteilungen schon in unser Land entsandt.

Lochkarten werden auch in Oesterreich längst schon nicht mehr nur vom Statistischen Zentralamt, sondern in nicht wenigen großen Büros verwendet. Maschinen berechnen in Wien die Fernsprechgebühren und die Renten, ermitteln in Sparkassen die Zinsen und schreiben sie selbsttätig in die Sparbücher ein. Buchungsautomaten ersetzen Kassabücher, Vollsichtkarteien ersparen Arbeit und Nervenkraft. Die Arbeitsvorgänge in Fabrik und Büro werden unkomplizierter, mechanischer, strapazieren das Gehirn immer weniger; die Mechanismen allerdings werden komplizierter, die wenigen Spezialisten sehr teuer.

Das Fußvolk der Roboterarmee ist auch in den Wiener Straßen zum Generalangriff angetreten. Immer öfter begegnen wir den Automaten mit dem Schlitz. Die roten Zigarettenspender sind schon lange Teil des Stadtbildes und sie sagen sogar „Danke schön!", was allerdings bei den meisten nicht mehr funktioniert.

DIE MENSCHEN, die Musikkonserven in Portionen zu einem Schilling zu sich nehmen, sind junge Menschen. Sehr jung mitunter; die erste Generation jedenfalls der Automationszeit — ältere Jahrgänge können, scheint’s, keine innere Beziehung zur Musikmaschine mehr gewinnen Der äußere Eindruck dieser jungen Leute aber ist irgendwie beklemmend. Denn sie haben, vermeint man mit Schrecken zu erkennen, keine lebendigen Gesichter mehr, sondern Masken vor dem Antlitz, die keine Art von Gefühlsregungen erkennen lassen. Und sie scheinen stumm, reden kaum ein Wort. Stundenlang versitzen' sie ihre Freizeit an den Espressotischen, saugen durch Strohhalme Coca Cola, haben vielleicht den Arm um die Schultern eines Mädchens gelegt: aber man hört kein zärtliches Geflüster, kein verschämtes Kichern. Blickst du sie an, sehen sie mit starren Augen quasi durch dich hindurch in irgendwelche Fernen; ihre Mienen tragen eine gewisse Ueberheblichkeit zur Schau, die abweisend wirken soll, und die Mundwinkel weisen oft ein wenig verachtungsvoll abwärts. Manchmal steht einer auf, stelzt wiegenden Schritts zum Automaten, füttert ihn mit einigen Scbillingstücken, drückt diesen oder jenen Knopf. Dann bringt vielleicht der Rhythmus eines Rock’n’Roll ein bißchen Bewegung in die starren Gestalten: Füße klopfen den Takt des Schlagzeugs mit, einige der Jungen summen die Melodie, dieser oder jener zuckt rhythmisch mit Schultern und Kopf.

Dann aber, wenn der letzte kreischende Akkord verklungen ist und der Mechanismus geisterhaft still aus dem Stapel die nächste Platte herausgreift, sinkt das jugendliche Publikum wieder in die Reglosigkeit zurück. Hie und da wirft vielleicht einer ein Wort in die Luft. Man bemüht sich zu verstehen: man hört eine knappe Beschreibung der „klassen Maschin“ des Karli oder eine kurze Schilderung des „Sterns, den er g’rissen hat". Doch man kommt mit diesen jungen Leuten nicht ins Gespräch, man möchte, aber kann nicht ergründen, wie diese Staatsbürger von morgen denken, fühlen, lieben und leiden. Sind sie die personifizierten faulen Brüder aus dem Märchen, die des Tages Arbeit mechanisieren, damit sie von früh bis abends in der Wiese liegen und den Wolken nachsehen können? Das Espresso mit dem Musikautomaten gleicht sehr oft in fataler Weise einer Bühne, auf der in magischer Beleuchtung Figuren agieren, die von unsichtbaren Fäden gezogen werden. Die Menschen am Automaten wirken mitunter fast wie von Elektronenstrahlen ferngelenkte, seelenlose Mechanismen. Droht nach der Automatisierung der Produktion auch die Automation des Menschen?

Freilich, die erste Generation des Automatenzeitalters zeigt sicherlich noch menschliches Fühlep, Das, jcat?n man vielleicht aus., der ,A?t der Musik schließen, die die jungen Leute dem Automaten entlocken. Vor kurzem kam es in einem Wiener Lokal zu einem Tumult, weil Aeltere Beschwerde darüber führten, daß die Jungen das schöne Lied vom brennend heißen Wüstensand fünfzehn- oder sechzehnmal hintereinander hatten abspielen lassen. Ein kitschiges, dummes, kompositorisch erbärmliches Lied, gewiß. Ein Lied aber immerhin, das Sehnsucht zum Ausdruck bringt. Daß der junge Mann von heute sein Sehnen nicht mehr selbst in unbeholfene Gedichte gießt, sondern für einen Schilling von der Maschine in die Gegend plärren läßt, entspricht nur dem Zug der Zeit. Aber die Sehnsucht ist da — wonach, wissen die jungen Menschen wahrscheinlich selbst nicht genau. Noch nicht.

DIE KULTUR der Automationszeit hat sich freilich noch nicht entwickelt und man weiß noch kaum, wie sie aussehen wird, wie ihre Produkte beschaffen sein werden. Daß aber die von den meisten Erziehern noch ungenutzte „Sehnsucht an sich" der jungen Generation von heute auch in diese Richtung weist, glaube ich einem kleinen Erlebnis auf dem Wiener Südbahnhof entnehmen zu können.

In der neuen Bahnhofshalle war vor Wochen eine Photoausstellung eingerichtet, als Ergebnis eines Preisausschreibens der Bundesbahn. Und es war recht bemerkenswert, zu sehen, welche Art von Photos eine Gruppe Burschen und Mädel — Typ des Publikums der Music-Box- Espressos — nach längerer schweigender Betrachtung mit „gsund" und „leiwand“, den Ausdrücken hohen Lobes also, honorierte: Bilder, die manchen Besuchern der Schau als „modern“ und „verrückt“ erschienen. Das müßte den Kulturproduzenten eigentlich zu denken geben. Und jenen Filmleuten, die uns glauben machen wollen, daß die Masse von heute nur Wert auf Heimatkitsch und falsche Wildwestromantik legt, weil sie keines Urteils fähig ist.

Und schließlich kann uns auch die Tatsache tröstlich stimmen, daß sich jetzt in New York John und Barbara wieder entlobt haben. Die beiden hatte ein Elektronengehirn aus Tausenden von Lochkarten als „ideales Ehepaar" ermittelt, und mit großem Pomp wurde vor Monaten im Fernsehstudio Verlobung gefeiert. In Zukunft aber, erklärte Barbara nun den Reportern, würde sie nur der Stimme ihres Herzens lauschen...

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.