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Wird Europa eine große Stadt?

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Rund 450 Millionen Menschen leben heute zwischen Atlantikküste und Weichsel, zwischen dem Nordkap und Sizilien. 450 Millionen Europäer (ohne die Bewohner der Sowjetunion) leben in einigen Millionenstädten, in Kleinstädten, in Dörfern, ja in Weilern und in der Einschicht Noch steht ein vorwiegend agrarischer Süden des Kontinents dem industrialisierten Norden gegenüber. 1988 werden in Europa schon 550 Millionen Menschen leben; in einigen Ländern wird das Durchschnittsalter der Bevölkerung auf etwa 20 Jahre herabgesunken sein. Und schon in 30 Jahren — also im Jahr 2000 — wird es 600 Millionen Europäer geben.

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Rund 450 Millionen Menschen leben heute zwischen Atlantikküste und Weichsel, zwischen dem Nordkap und Sizilien. 450 Millionen Europäer (ohne die Bewohner der Sowjetunion) leben in einigen Millionenstädten, in Kleinstädten, in Dörfern, ja in Weilern und in der Einschicht Noch steht ein vorwiegend agrarischer Süden des Kontinents dem industrialisierten Norden gegenüber. 1988 werden in Europa schon 550 Millionen Menschen leben; in einigen Ländern wird das Durchschnittsalter der Bevölkerung auf etwa 20 Jahre herabgesunken sein. Und schon in 30 Jahren — also im Jahr 2000 — wird es 600 Millionen Europäer geben.

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Sie alle werden nicht mehr in jener idyllischen Traumlandschaft leben, die den Touristen heute noch in den Wäldern, an menschenleeren Alpenseen und an idyllischen Stränden des Mittelmeeres entgegentritt.

Denn Europa ist auf dem Weg, ebenso wie die USA, zu einer großen Stadtlandschaft zu werden. 1850 hat es auf der ganzen Welt nur drei Städte mit einer Einwohnerzahl über einer Million gegeben. Heute sind es bereits mehr als 100. Statistiker der UNO rechnen damit, daß es bereits 1988 mehr als 200 sein werden.

Zu diesem Zeitpunkt — also in 18 Jahren — werden 80 bis 90 Prozent der Europäer in Städten leben — heute ist es knapp ein Viertel. Natürliche Bevölkerungsvermehrung und ein noch unvorstellbarer Strukturwandel wird Millionen Menschen aus der Landwirtschaft abziehen und sie Beschäftigung in den Großstädten finden lassen. Freilich: Im gleichen Ausmaß wie die Landflucht wird auch eine Bewegung „Zurück zur Natur“ um sich greifen. Schon heute ist der Drang zum Haus im Grünen ein Trauma für Raumplaner und Architekten geworden. Denn nichts wird so knapp werden wie der Grünbereich am Rande der Großstadt. Deshalb überlegt man heute bereits neue Wohnformen, die in Großstadtnähe möglichst viele Menschen befriedigen können. In Marl im Ruhrgebiet entstand ein sogenannter „Wohnhügel“, eine Lösung platzsparender Einfamilienhäuser mit grünen Terrassen. In Montreal wurde anläßlich der Weltausstellung 1967 das sogenannte „Habitat“ vorgeführt — eine noch nicht ganz vorstellbare Wabenbauweise nach sehr individuellen Gestaltungsmerkmalen und mit einem Maximum an Eigenleben für die Bewohner. Die Grenze zwischen Stadt und Land wird durch Satellitensiedlungen verschwimmen. Eine neue Urbanisierung wird aus klar abgegrenzten Gebieten der alten Gemeinden eine „Stadtlandschaft“ formen. Die Städte werden unaufhaltsam In-einanderwachsen. Schon heute ist die Ostküste der USA ein Beispiel dafür. Zwar sind die Städte Boston, New York, Philadelphia, Baltimore und Washington noch als Einzelstädte auf der Landkarte gekennzeichnet und haben eigene Verwaltungskörper — in Wirklichkeit ist aber bereits vom Flugzeug aus eine einzige große Stadt zu erkennen, deren Netz immer dichter wird. Die amerikanischen Raumplaner haben ihr auch schon einen Namen gegeben: „Atlantic Seabord City“, in der in Kürze 80 Millionen Menschen leben werden.

Auch das deutsche Ruhrgebiet wächst immer mehr zu einer großstädtischen Einheit. Duisburg, Essen, Bochum und Dortmund lassen sich schon heute nicht mehr klar abgrenzen; ähnlich ist es im Raum Köln Bonn und Frankfurt-Mainz. In Holland werden 1980 die Städte Rotterdam, Den Haag, Leiden, Haarlem, Amsterdam, Hilversum und Utrecht eine Stadteinheit mit sechs Millionen Menschen bilden. Österreich bildet in diesem Zusammenhang keine Ausnahme.

Die vom Bautenministerium erstellte Bevölkerungs- und Verkehrsprognose destilliert die kommenden Stadtlandschaften klar heraus:

• Der Raum Wien, an den sich entlang der Südautobahn bis Wiener Neustadt eine urbanisierte Industriezone anschließen wird.

• Das Gebiet Linz—Wels wird zu einem oberösterreichischen Zentralraum wachsen.

• Salzburg ist schon heute mit Hallein verwachsen;

• vor allem in den beiden Großtälern des Inn und Rhein wird eine heute noch unvorstellbare Stadtlandschaft entstehen; so werden die Städte zwischen Innsbruck und Wörgl zu einer raschen wachsenden Einheit werden.

• In Vorarlberg wird man zwischen Bregenz und Feldkirch nur noch zwischen Häusern mit Vorgärten, „sauberen“ Industrien und Gewerbebetrieben fahren. Denn In den beiden westösterreichischen Zonen verbinden sich überdurchschnittliche Zuwanderungsquoten mit starker Industrialisierungstendenz und optimalen Verkehrsträgern.

Das Dorf mit neuen Aufgaben

Langsam aber sicher verlieren immer mehr die Vorstellungen von der dörflichen Einheit an Realität. Das Dorf ist zur klassischen Abwanderungszone geworden. Gleichgültig, ob in Süditalien oder in Skandinavien: eine arbeitsintensive, auf Dauer aufstiegslose Landwirtschaft treibt zuerst die Klein-, später auch die größeren Bauern und ihre Nachkommen in die wachsenden Städte.

Seit Beginn des vorigen Jahrhunderts ist in ganz Europa das Dorf nicht mehr so gewachsen wie die Stadt; seit 1945 zeigt das Dorf fast überall in Europa Schrumpftendenzen. Dafür freilich haben sich neue Funktionen für die dörfliche Gesellschaft ergeben. Das Dienstleistungsgewerbe und der Nebenerwerb für den laufenden wachsenden Verkehr schaffen neue Kontakte und neue Arbeits- und damit Verdienstmöglichkeiten.

Durch die zunehmende Freizeit der Stadtbewohner wächst der Fremdenverkehr; durch die zunehmende Belästigung der Stadtbewohner durch

Lärm, Schmutz und schlechte Luft wächst die Chance des Dorfes, Erholungszone zu werden. In den achziger und neunziger Jahren dieses Jahrhunderts wird es in Europa exklusive Ruhezonen geben müssen, in denen sich Millionen Menschen aus den industriellen Stadtzonen erholen können. Die Alpen bieten bereits heute die ideale Gelegenheit dazu. Österreichs

Chance, eine solche grüne Erholungsinsel zu werden, ist ungeheuer groß.

Freilich wird auch der Fremdenverkehr noch einen starken Strukturwandel mitmachen müssen. Der Gast der Zukunft wird infolge notorischen Personalmangels nicht mehr damit rechnen können, hinten und vorne bedient zu werden, sosehr dies auch dem klassischen Erholungswunsch entspricht. Vielmehr wird die Gastronomie (auch in Österreich) zu verstärkter Selbstbedienung und fertig vorfabrizierten Speisen kommen. Fast überall in Österreich wird auch eine zweite Saison entstehen. Noch sind tausende Hänge in den Alpen für den rapide wachsenden Skisport unerschlossen.

Aber nicht allein kontinentale Erholungszonen wird die europäische Gesellschaft der nächsten Jahrzehnte brauchen: in unmittelbarer Umgebung der Städte müssen grüne Erholungsgebiete erhalten bleiben. Deshalb wird überall der Ruf nach Raumplanung laut; die Zukunft muß stärker, als uns dies bisher bewußt geworden ist, durch vorsorgende Maßnahmen „geplant“ werden. Deshalb braucht man auch überall bessere gesetzliche Bestimmungen, die Grünraum erhalten und schaffen, Gemeinschaftseinrichtungen ermöglichen und zu einem vernünftigen Verhältnis zwischen Individual-und Gesellschaftsrechten führen.

In Österreich hat die ÖVF-Bundes-regierung noch knapp vor ihrem Abtritt ein Raumordnungsprogramm von einem Wissenschaftlerteam erstellen lassen, das allerdings auf heftigen Widerspruch bei den Praktikern gestoßen ist. Und die SPÖ hat bereits in ihre Vorstellungen für ein neues Regierungsprogramm Maßnahmen zur Grundbeschaffung und Assanierung aufgenommen — was realistische Überlegungen für die Zukunft bedeutet. Denn die derzeitige Rechtslage etwa in den Bauordnungen oder für das Enteignungsverfahren reicht auch in Österreich nicht aus, wilde Grünlandverbauung hintanzuhalten und Eigentumsexzesse zu verhindern.

Wasser und frische Luft

Neue und bessere Gesetze wird man in ganz Europa — aber auch in Österreich brauchen, um die Voraussetzungen für gesunde Luft und gesundes Wasser zu schaffen. Hier geht es freilich nicht allein um verwaltungsmäßige oder rechtliche Fragen — hier geht es um die technologische Bewältigung der Probleme und um den konzentrierten Einsatz ungeheurer finanzieller Mittel.

So hat die EWG ihren Mitgliedern und den übrigen europäischen Ländern Zusammenarbeit nach einem Punkteprogramm angeboten: Schon an zweiter Stelle in der Dringlichkeit technologischer und finanzieller Zusammenarbeit steht die Umwelthygiene, die Reinhaltung von Luft und Wasser, der Schutz des Menschen vor dem Lärm. Allerdings hat gerade in diesen Fragen Österreich vorausblickende Maßnahmen gesetzt. Eine forcierte Elektrifizierung nach 1945, das Vorhandensein von Bergwasser in ausreichender Menge sichert uns besser als anderswo die Lösung dieser Sorgen. Auch der Hausbrand mit Kohlen ist im Rücklauf begriffen. Immer mehr Zentralheizungsanlagen auf neuer Energiegrundlage entstehen, Fernheizwerke liefern Wärme in Spitäler und Kommunaleinrichtungen, später auch in neue Siedlungen, und Experten meinen, daß man in 20 Jahren die Feuerung mit Kohle vielleicht sogar ganz verbieten wird. Der „sauberen“ Industrie ohne häßlichen Schlot gehört die Zukunft.

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