Stadt - © Illustration: iStock/SpicyTruffel

Michaela Kauer: „Es ist wichtig, auf Städte zu hören“

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Gesundheitsversorgung, Wohnen, Gleichberechtigung: Europas Städte sind in der Coronakrise besonders gefordert. Michaela Kauer, Leiterin des Wien-Hauses in Brüssel, über urbane EU-Politik.

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Gesundheitsversorgung, Wohnen, Gleichberechtigung: Europas Städte sind in der Coronakrise besonders gefordert. Michaela Kauer, Leiterin des Wien-Hauses in Brüssel, über urbane EU-Politik.

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Städte haben in vielen Fällen andere Herausforderungen zu meistern als ländliche Regionen. Michaela Kauer ist Chefin des Verbindungsbüros der Stadt Wien zur EU. Sie lebt in Brüssel und setzt sich für die verstärkte Zusammenarbeit und mehr politische Mitsprache von Städten in der Europäischen Union ein.

DIE FURCHE: Brüssel ist die Hauptstadt Europas, doch verbinden viele damit nur Gebäudetürme, in denen Europas Bürokratie abgewickelt wird. Müsste Brüssel mehr tun, um das Image als Hauptstadt Europas aufzubessern?
Michaela Kauer: Zwei Antworten. Erstens ist Brüssel die Hauptstadt Belgiens, meine zweite Heimatstadt, in der ich zur Schule gegangen bin und in der ich seit fast zwölf Jahren lebe. Belgien zeigt, bei aller Komplexität dieses wunderschönen Landes, dass es Krisen meistern kann. Zweitens: Die „EU-Bürokratie“ ist oft nur eine Ausrede für eigenes nationales Versagen oder den Unwillen, zuzugeben, dass Kompromisse notwendig sind – denn das wäre ein Zeichen von Schwäche. So hat die EU-Kommission bereits Ende Jänner 2020 die ersten Ausschreibungen für Corona-Forschung veröffentlicht, während in vielen Mitgliedstaaten noch eine sehr lasche Warteposition zu verzeichnen war. Die Medien könnten hier noch viel tun, das Bild geradezurücken – denn wenn „die EU“ entscheidet, dann sind es immer die Mitgliedstaaten, die nationalen Regierungen, die das tun. Wer sich etwa über die mangelnde Koordination der EU in Sachen Gesundheitspolitik beschwert, sollte zuerst bei ihrem oder seinem Gesundheitsminister anklopfen.

DIE FURCHE: Wie sieht die Koordination der Städte in Zeiten der Coronakrise aus?
Kauer: Die großen Städte Europas arbeiten schon seit Jahrzehnten eng zusammen und haben dazu gemeinsame Verbände gegründet, die ihre Anliegen gebündelt an die EU-Institutionen richten. Der Austausch zum Krisenmanagement in der Corona-Pandemie fand also auf schon lange aufbereitetem Boden statt, der sich seit zehn Monaten großteils online – dafür sehr intensiv – abspielt. Ein Aspekt, der Wien wichtig ist, ist die Rolle der Daseinsvorsorge, also der öffentlichen Dienste, die in ganz Europa eine wichtige Rolle zur Sicherung der Versorgung der Menschen mit Energie, Wasser, Wohnen, Spitälern und vielem mehr gespielt haben. Dazu haben wir einen europäischen Städtedialog initiiert. Wichtigstes Anliegen der Städte ist aber, bei den Wiederaufbauplänen der EU mit am Tisch zu sitzen, damit die Hilfe direkt bei den Menschen ankommt. Und was jetzt in der Krise leichter war – etwa Investitionen zu stemmen – sollte auch langfristig für die Städte und Regionen der EU abgesichert werden.

DIE FURCHE: Welche Herausforderungen haben europäische Städte derzeit, die ländliche Regionen nicht haben?
Kauer: So viel Unterschied ist da nicht. Wer arm ist, egal, ob in der Stadt oder auf dem Land, hat größere Sorgen und Probleme. Der größte Unterschied bei der Coronakrise lag und liegt wohl in der Nähe zu Grün- und Freiräumen vom Wohnort. Städte müssen viel stemmen, was die komplette urbane Logistik und Infrastruktur betrifft – neben der gesundheitlichen und sozialen Versorgung steht die Mobilität von Menschen und Waren da ganz vorne. Wenn das Vertrauen in den öffentlichen Verkehr abnimmt und wieder mehr Menschen zu Fuß gehen, das Rad nehmen, oder auch das Auto, dann müssen Städte damit umgehen.

DIE FURCHE: Die Armut hat sich in der Corona krise verschärft. In vielen Städten sprach man auch von einer Wohnungskrise.
Kauer: Wir haben ja gesehen, dass sich die Lage in den Wohnungsmärkten, ganz besonders in den Städten, seit der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise 2008 und 2009 massiv verschärft hat. In ganz Europa hatten schon vor der Corona-Pandemie Menschen Angst, ihre Wohnungen zu verlieren, sie gaben oft weit mehr als ein Drittel, ja bis zur Hälfte des Einkommens für das Wohnen aus. Zwangsräumungen und Obdachlosigkeit steigen überall in der EU an. Gleichzeitig sanken seit 2008 die Investitionen ins leistbare Wohnen um rund 60 Milliarden Euro pro Jahr, während durch Finanzialisierung und die Zunahme von touristischen Kurzzeitvermietungen das Angebot an leistbaren Wohnungen weiter verknappt wurde. Die OECD spricht inzwischen bereits davon, dass die mittleren Einkommensgruppen massiv unter Druck stehen – the squeezed middle class. Die Wohnungskrise trifft also seit über einem Jahrzehnt weite Teile der Bevölkerung und ist im Mittelstand angekommen. Durch die Covid-19-Krise hat sich das jetzt ganz klar noch einmal verschärft, wie wir überall in Europa sehen. Denn: Was tun Familien in zu kleinen oder ungesunden Wohnungen im Lockdown? Was geschieht, wenn sie wegen Jobverlust die Miete oder Kreditrate nicht mehr zahlen können? Wie soll sich eine obdachlose Person isolieren, um gesund zu bleiben? Wenn die Prekarität des Einkommens und des Wohnens zusammenkommen, ist es besonders schlimm. Es zeigt sich auch ganz deutlich, dass Städte, die auf soziale Durchmischung, einen starken öffentlichen Sektor und Maßnahmen zum Schutz von Mietern und Mieterinnen setzen, krisenfester sind als andere.

DIE FURCHE: Sollten europäische Städte mehr Souveränität innerhalb der EU bekommen, um ihre Agenden durchzusetzen?
Kauer: Fakt ist: In der EU leben 72 Prozent der Menschen in Städten und urbanen Räumen. Es ist also sowohl fachlich intelligent als auch demokratiepolitisch notwendig, auf die Städte zu hören. Die EU-Städteagenda (siehe Kasten) aus 2016 war ein erster Schritt, um auszuloten, wie Städte, Mitgliedstaaten und EU- Institutionen auf Augenhöhe zusammen- arbeiten können. Der Lackmustest liegt jetzt in der Umsetzung. Schafft es die Europäische Kommission, die rund 160 Empfehlungen dieser Partnerschaften aufzugreifen? Werden die Mitgliedstaaten sich zu mehr urbaner Politik entschließen? Während etwa in den traditionell sehr urban orientierten Niederlanden Städtepolitik auf nationaler Ebene verankert ist, wird sie in Österreich derzeit vom Landwirtschaftsministerium bearbeitet. Es liegt also sowohl an den Mitgliedstaaten, auf die Städte zu hören, etwa, wenn es um die Wiederaufbaupläne für Covid-19 geht, als auch an den EU-Institutionen, den Städten mehr Gewicht zu geben. Die soeben auf EU-Ebene beschlossene Neue Leipzig-Charta setzt auf die Gemeinwohlorientierung in der urbanen Entwicklung – Städte sollen gerecht, grün und produktiv sein und gut mit ihrem Umland zusammenarbeiten. Sie richtet sich sowohl an die EU-Institutionen als auch an die Mitgliedstaaten. Das ist ein Schritt in die richtige Richtung. Allerdings: Im Arbeitsprogramm der EU-Kommission für 2021 kommt das Wort „Stadt“ kein einziges Mal vor. Zum Vergleich: Joe Biden, President-elect, traf sich kurz nach den Wahlen gleich mit den Bürgermeistern und Bürgermeisterinnen der USA. Auf eine solche Einladung von Ursula von der Leyen warten die Städte noch.

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