Impfung - © Illustration: iStcock/Ksenia Zvezdina (Bb:RM)

Impfpolitik und Corona: Lückenhafte Priorisierung

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Wer wo wann und warum geimpft wird, ist in Österreich intransparent, sagen Impfpolitikforscherin Katharina T. Paul und Medizinpolitologe Christian Haddad. Ein Interview über föderalistische Stolpersteine, die Rolle von Lobbyisten und nicht einhaltbare Versprechungen.

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Wer wo wann und warum geimpft wird, ist in Österreich intransparent, sagen Impfpolitikforscherin Katharina T. Paul und Medizinpolitologe Christian Haddad. Ein Interview über föderalistische Stolpersteine, die Rolle von Lobbyisten und nicht einhaltbare Versprechungen.

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Je länger die Pandemie dauert, desto kühner ist es, wenn Politiker und Politikerinnen eine (baldige) Rückkehr in die Normalität versprechen. Wer das macht, spielt mit dem Vertrauen der Bevölkerung, argumentieren die Politikwissenschafter Katharina T. Paul und Christian Haddad, die derzeit gemeinsam für das Projekt „Solpan“ („Solidarity in time of a pandemic: What do people do, and why?“) an der Universität Wien forschen. Im Gespräch mit der FURCHE verdeutlichen sie zudem, warum der Glaube, die Covid-19-Krise könne allein durch die Impfung gelöst werden, ein Trugschluss ist und weshalb es gerechtfertigt ist, dem Globalen Norden neokoloniales Verhalten vorzuwerfen.

DIE FURCHE: Sie erforschen die gesellschaftlichen und institutionellen Bedingungen für „vaccine politics“ (Impfpolitik). In Anbetracht der Pandemie – wie bewerten Sie die Situation im Rahmen Ihres Forschungsfeldes?
Katharina T. Paul: Die Pandemie rückt das nationale Impfprogramm, die Institutionen und die Behörden, die dafür verantwortlich sind, stark ins Bild. Auf Österreich und seine Institutionen bezogen: Wir sehen, dass die Rahmenbedingungen föderal organisiert sind und sich daraus Schwierigkeiten ergeben und Verantwortungen hin- und hergespielt werden. Im Bezug auf die aktuelle Impfverteilungspolitik wird auch deutlich, dass es an Transparenz fehlt, wie was wo verteilt wird.

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DIE FURCHE: Vor einem halben Jahr schien die größte Sorge zu sein, dass sich zu wenige Menschen impfen lassen wollen. Mittlerweile sprechen wir über Verteilungskämpfe. Wie erklären Sie sich diesen Wandel?
Paul: Im Frühjahr 2020 haben wir im Zuge der „Austrian Corona Panel Project“-Studie gesehen, dass die Impfbereitschaft bei rund 47 Prozent lag. Danach ist sie auf rund ein Drittel gesunken und zeitgleich mit der Verfügbarkeit von Impfstoffen wieder auf 47 Prozent gestiegen. Einerseits sieht das aus wie eine Kehrtwende. Andererseits war der politische Blickwinkel zu stark auf die Impfskepsis fokussiert, mit dem Versprechen, dass die Impfung das Ende der Pandemie einleitet. Das hat sich nicht bewahrheitet, auch aufgrund der Schwierigkeiten in den Impfprogrammen.
Christian Haddad: Was gerade passiert, ist, dass in der Gesellschaft über die Herstellung, die Entwicklung und die Zulassung von Arzneimittel sehr breit diskutiert wird. Davor war das ein sehr technisches Expertenwissen. Jetzt hat die Bevölkerung ein differenzierteres Bild über die Sicherheit und die Wirksamkeit von Arzneimitteln entwickelt. Die Debatte wird dadurch lebendiger. Das wird die Politik langfristig berücksichtigen müssen, was ich durchaus als positive Entwicklung sehe.

DIE FURCHE: Wie wird Impfpolitik auch abseits von Corona in Österreich organisiert?
Paul: Gerade wenn es um Impfprogramme geht, sind sehr viele Akteurinnen und Akteure eingebunden. Neben dem Bundesministerium für Gesundheit und Soziales sind das der Hauptverband für Sozialversicherungsträger, die Länder, das Finanzministerium, die Sanitätsdirektionen auf der Bundesländerebene, die Bundeshauptmannschaften, die Ärztekammer. Viele haben sich historisch das Mitspracherecht eingeräumt – föderalismusbedingt oder aufgrund einer standespolitischen Vertretung heraus.

Nicht überall werden dieselben Berufsgruppen vorgezogen. Auch gibt es Unterschiede, wer als systemrelevant gilt.

Katharina T. Paul
Paul - © Foto: Sengmüller

Katharina T. Paul

Katharina T. Paul ist Impfpolitikforscherin am Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien.

Katharina T. Paul ist Impfpolitikforscherin am Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien.

DIE FURCHE: Gilt diese Vielfalt an Mitsprechenden auch für die aktuelle pandemiebedingte Impfpolitik?
Paul: Bei ursprünglichen Impfprogrammen teilen sich Länder, Bund und der Hauptverband der Sozialversicherungsträger die Kosten für die Impfbeschaffung. Und um die Verteilung kümmern sich die Länder. Jetzt, in der Pandemie, zahlt der Bund allein diese Impfungen, und die Bundesbeschaffungsagentur (BBG) verteilt sie. Die Verabreichung und das Implementieren dieser Impfprogramme liegen dann in den Händen der Bundesländer. Ein Spezifikum von Österreich ist sicherlich, dass regionale Interessen sehr schnell wahrgenommen werden im Implementieren von Politik. Das zeigt sich etwa in den feinkörnigen, komplexen Priorisierungslisten.

DIE FURCHE: Der Inhalt einer Tiroler Priorisierungsliste gleich nicht jener aus dem Burgenland und diese nicht jener der Steiermark ...?
Paul: Nicht unbedingt. Die Listen variieren von Bundesland zu Bundesland. Nicht überall werden dieselben Berufsgruppen vorgezogen, auch gibt es geringe Unterschiede, wer als systemrelevant gilt, dies mag auch an der Stärke der Interessenvertretung liegen. Zudem werden die vom Bund ausgegebenen Richtlinien nicht unbedingt eingehalten und dienen eher der Orientierung. Einerseits aus politischem Unwillen heraus, oder weil lokale Praktiken sich durchsetzen – Stichwort geimpfte Bürgermeister. Andererseits, weil die Infrastruktur so lückenhaft ist, dass es nicht gelingt, Priorisierungslisten so umzusetzen, wie sie gedacht sind.

DIE FURCHE: Ist diese Undurchschaubarkeit von Priorisierungslisten ein typisch österreichisches Phänomen?
Paul: Zumindest dürften die Listen in vergleichbaren Staaten weniger feinkörnig sein. In den Niederlanden oder Frankreich zum Beispiel, wo die Impfungen weniger dezentral organisiert sind. Und natürlich in den USA.

Sowohl Moderna als auch Biontech/ Pfizer haben ihre klinischen Studien in Schwellenländern durchgeführt. Verkauft wurden die Produkte aber an jene, die am besten bezahlt haben.

Christian Haddad
Haddad - © Foto: Privat

Christian Haddad

Christian Haddad forscht am Österreichischen Institut für Internatio­nale Politik u. a. zu Medizinpolitik.

Christian Haddad forscht am Österreichischen Institut für Internatio­nale Politik u. a. zu Medizinpolitik.

DIE FURCHE: In westlichen Industrieländern dominieren die Vakzine von Biontech/ Pfizer, Astra Zeneca, Moderna und ab Mitte April vermutlich jene von Johnson & Johnson. Abgesehen von der aktuellen Diskussion rund um Sputnik V werden Sera aus Indien, China oder Kuba so gut wie nicht in Betracht gezogen. Warum nicht?
Haddad: Die öffentliche Debatte hat sich zu sehr auf die Erforschung eines Impfstoffes, aber nicht auf die Herstellungs- und Vertriebsbedingungen nachher fokussiert. Obwohl die UN mit COVAX-Facility – innerhalb dessen sich 190 Länder die Kosten für die Beschaffung teilten – dafür Instrumente schaffte. Das ist die eine Seite. Die andere Seite ist, dass das Wissen für Covid-19-relevante Technologien am Ende eben nicht global geteilt wurde, obwohl das eine Initiative rund um die Länder Südafrika und Indien eingefordert hatte. Unter vorherrschenden Bedingungen ist ein Arzneimittel nach der Entwicklung durch ein Monopol geschützt. Auf Basis geistiger Eigentumsrechte. Das schränkt die Möglichkeiten zur Herstellung und Nutzung massiv ein. In der Pandemie sollten diese Monopolrechte zeitweilig außer Kraft gesetzt werden. So der Vorschlag. Monate hatte man hinter verschlossenen Türen darüber verhandelt. Doch ein Veto durch einige Staaten des Globalen Nordens – Nordamerika, Europa, Japan – verhinderte die Aufhebung der Patentrechte. Die Folge ist, dass Pharmafirmen weiter selbst entscheiden können, welchen anderen Herstellern sie Lizenzen geben.

DIE FURCHE: Wie ist es dann zu erklären, dass Länder wie Indien oder Kuba trotzdem eigene Impfstoffe haben?
Haddad: Der kubanische Fall ist sehr interessant, da Kuba seit Jahrzehnten unter einem Wirtschaftsembargo leidet. Allerdings ist es Kuba in der Vergangenheit schon häufiger gelungen, durch das staatliche Forschungsinstitut „Bio Cuba Farma“ gut wirkende Arzneien zu produzieren. Auch im Hinblick auf Covid-19 hat man dort eigenständig einen Impfstoffforschungsprozess begonnen. Der vielversprechendste heißt „Soberana“ und geht jetzt gerade in Phase III der klinischen Studien. Aber auch viele andere Staaten haben unabhängig erfolgreich an Impfstoffen geforscht. Russland eben oder Indien.

DIE FURCHE: Einige dieser Vakzine scheinen durchaus vielversprechend zu sein. Warum fällt es der EU so schwer, sie als Alternative zu Astra Zeneca anzuerkennen?
Paul: In dieser Frage wird die geopolitische Dimension der Impfpolitik deutlich. Es wird Diplomatie gemacht über die Plattform des Impfens. Diese Causa hat viel mit der Thematik des Nichtwissens zu tun.

DIE FURCHE: Inwiefern?
Paul: Wenn man sich nur auf die technischen Komponenten von Impfung konzentriert, werden andere Aspekte ausgeblendet. Die internationale Dimension wurde zugunsten eines nationalstaatlichen Denkens vernachlässigt. Diese globale Asymmetrie steht im Kontrast zu der Art und Weise, wie die Wissenschaft gearbeitet hat.
Anfangs fand viel im Rahmen von „Open Science“ statt, diese Offenheit hat sich nicht ausreichend in die späteren Phasen der Herstellung und Verteilung übersetzt.
Haddad: Die Vorstellung, dass gute Wissenschaft und Innovationen immer nur aus dem Globalen Norden kommen, hält sich hartnäckig. Das wissen wir aus der medizinanthropologischen Forschung. Und das reflektiert sich auch in dieser Sichtweise, dass man natürlich sofort auf die amerikanischen und europäischen Hersteller geschaut hat und den chinesischen wie den russischen Impfstoff nicht auf dieselbe Art und Weise ernst genommen hat. Gleichzeitig merkt man in Europa, dass man alleine mit Taktik und gegenseitigem Überbieten nicht zum Erfolg kommt. Es gibt auch bilaterale Vorstöße wie in Ungarn mit dem chinesischen Impfstoff oder dass Sputnik V als Option gesehen wird. Diese Asymmetrie zwischen Globalen Norden und Süden sieht man noch an einer anderen Stelle: Sowohl Moderna, als auch Biontech/Pfizer haben ihre klinischen Studien in Schwellenländern durchgeführt, etwa in Südafrika. Verkauft wurden die Produkte aber an jene, die am besten gezahlt haben. Teile der südafrikanischen Bevölkerung wurden also als Versuchspersonen herangezogen, um die Sicherheit und die Wirksamkeit des Impfstoffes zu überprüfen, aber nach der Zulassung wurden sie im Zugang nachgereiht. Das ECCHR (European Center for Constitutional and Human Rights, Anm. d. Red.) spricht in diesem Zusammenhang von neokolonialem Verhalten.

Die Corona-Pandemie ist kein rein epidemiologisches Event. Sie ist ein soziales Phänomen und nicht abseits von Innenpolitik oder Außenpolitik zu sehen.

Katharina T. Paul

DIE FURCHE: Warum werden ausgerechnet in Südafrika diese Studien gemacht?
Haddad: Seit Ende der 90er Jahren ist viel von der pharmazeutischen Forschung aus den USA oder Europa abgewandert. Aus Kostengründen etwa. Dabei wurden Länder bevorzugt, in denen eine gute klinische Infrastruktur da ist – neben Südafrika oder Indien sind das auch Länder der ehemaligen Sowjetunion, die Ukraine oder Polen zum Beispiel, in denen die ausgehöhlten Gesundheitssystemen leicht durch private Investments adaptiert werden können.

DIE FURCHE: Die öffentliche Debatte hat sich dieser Tage einmal mehr auf Astra Zeneca eingeschossen. Wie bewerten Sie das Unternehmen und seine Außenwirkung?
Haddad: Die Kommunikation und das Krisenmanagement der Firma haben Mängel. Aber es ist ein Fehler, Astra Zeneca als Sündenbock zu diffamieren, auf den der ganze Unmut projiziert werden kann. Den Fokus gilt es viel mehr auf die allgemeinen Strukturen zu richten, unter denen die pharmazeutische Forschung stattfindet. Angefangen bei der Profitorientierung über die Zurückhaltung von Studiendaten bis hin zu Investitionsentscheidungen, die auf Basis von Aktionärsinteressen getroffen werden und nicht auf Basis medizinischer Erfordernisse. Fakt ist: Lebensnotwendige Güter wie Arzneimittel werden unter kapitalistischen Bedingungen produziert.
Paul: Die Sorgen rund um die Astra-Zeneca-Impfung muss man dennoch ernst nehmen, und Behörden sowie die Wissenschaft tun dies auch. Das Vertrauen in Impfungen kann sonst sinken.

DIE FURCHE: Je länger die Pandemie dauert, desto mehr scheint das Vertrauen in Institutionen zu schwinden. Wo identifizieren Sie den Wendepunkt?
Paul: Innerhalb des vergangenen Jahres sind verschiedene Maßnahmen parallel gelaufen, und es ist zugleich schwergefallen, den Effekt verschiedener Maßnahmen zu evaluieren. Auch weil die Daten dazu fehlen, oft nicht einmal erhoben werden. Viele Menschen fühlen sich mittlerweile überfordert, auch weil sich die sozioökonomischen wie psychosozialen Folgen erst nach und nach herauskristallisiert haben. Eine weitere Ursache ist das Versprechen ab Herbst, dass uns die Impfung die Normalität zurückbringt. Dieses Versprechen konnte gar nicht eingehalten werden und führt notwendigerweise zu Enttäuschung und Desillusionierung.

DIE FURCHE: Dass die Impfung die Pandemie besiegen könnte, ist ein Trugschluss?
Haddad: Die Impfung ist ein sehr relevantes Mittel. Aber das Versprechen „back to normal“ ist tückisch. Das schränkt die Vorstellungskraft unserer Gesellschaft ein. Wir müssen uns ausmalen, wie wir künftig mit Pandemien umgehen, an den Ursachen arbeiten, eine soziale Resilienz entwickeln. Wir wissen aus der umweltepidemiologischen Forschung, dass mit der Impfung die Gefahr, die von weiteren Zoonosen ausgeht, nicht vom Tisch ist. Jetzt wäre ein gutes Zeitfenster, über grundsätzliche Fragen nachzudenken.
Paul: Die Corona-Pandemie ist kein rein epidemiologisches Event. Sie ist ein soziales Phänomen und nicht abseits von Innenpolitik oder Europapolitik oder Außenpolitik zu sehen. Und auch Impfen und Politik sind untrennbar miteinander verknüpft. Von der nationalen Unordnung, diesem Kontrollverlust wird zum Teil auch abgelenkt. Die Verantwortung wird abgeschoben vom Bund zu den Ländern, von den Ländern zum Bund und vom Bund zu Europa.

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