Ruine Angst - © Foto: iStock/rglinsky (Bildbearbeitung: Rainer Messerklinger)

Brigitte Ettl: „Es gibt kein Menschsein ohne Angst“

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Krisen könne man nicht im Schnelltempo verarbeiten, sagt die Psychotherapeutin Brigitte Ettl. Im Interview erklärt sie, warum sie das Wort Trauerarbeit nicht mag und wie Dystopien zum Bewusstseinswandel beitragen.

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Krisen könne man nicht im Schnelltempo verarbeiten, sagt die Psychotherapeutin Brigitte Ettl. Im Interview erklärt sie, warum sie das Wort Trauerarbeit nicht mag und wie Dystopien zum Bewusstseinswandel beitragen.

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Am 2. November, zu Allerseelen, jährt sich der Terroranschlag von Wien. Aber wie geht man damit um, wenn ein geliebter Mensch plötzlich stirbt? Was hilft gegen vermeintliche Hoffnungslosigkeit, und ist der Alltag der größte Feind von Dystopien? Die Wiener Psychotherapeutin Brigitte Ettl im Gespräch über Krisenbewältigung, den richtigen Fokus und die Rolle von Sozialen Medien.

DIE FURCHE: Pandemien kannte man früher nur aus dystopischen Actionfilmen. 2020 wurde das Virus real, und mit ihm kam das Gefühl, dass alles bald ein Ende haben würde. Doch siehe da: Das Leben geht weiter, wir haben uns an die Pandemie „gewöhnt“. Wie ist uns das gelungen?
Brigitte Ettl:
Am Anfang ist es ein Schock. Niemand hat gewusst, wo dieser unsichtbare Feind lauert, was er einem tut und wie man sich schützen kann. Ich sage dann immer: Jetzt „können“ wir schon Corona. Wir haben gelernt, mit Masken zu leben. Für mich ist das Coronavirus nicht unbedingt ein Feind, sondern ein Zeichen dafür, wie anpassungsfähig der Mensch ist und wie er sich auch in widrigen Umständen entfalten kann. Wir lassen uns von Corona nicht mehr alles gefallen und sehen zu, dass das Leben wieder ein Stück weit lebenswerter wird. Durch die Anti-Corona-Demonstranten und die Impfgegner sehen wir aber auch, dass es Menschen gibt, die sich von ihrer Persönlichkeitsstruktur her gefährdet und eingesperrt fühlen und daher Proteste organisieren. Andere hingegen fürchten sich immer noch vor dem Virus und verlassen gar nicht mehr das Haus.

DIE FURCHE: Corona ist die erste Pandemie im Internetzeitalter. Was macht es mit uns, wenn wir in Echtzeit wissen, wie viele Menschen weltweit gerade der Pandemie zum Opfer fallen?
Ettl:
Das Dramatische waren die Bilder von Särgen in Italien und Ärzten in Schutzkleidung im Fernsehen und in den Sozialen Medien. Diese Bilder haben den visuellen Sinn angeregt und eine emotionale Intensität ausgelöst. Hinzu kam, dass durch den Lockdown viele zu Hause waren und mehr Zeit hatten, diese Medien zu konsumieren, als in ihrem normalen Alltag. Diese Kombination wurde dadurch zu einem toxischen Gemisch. Rasch hatte man im Bekanntenkreis schon eine persönliche Betroffenheit, und das Coronavirus war nicht mehr eine Katastrophe, die sich im fernen China abspielt. Damit ist die persönliche Angst zusätzlich gestiegen.

DIE FURCHE: Würden Sie sagen, Corona wird sich ins kollektive Gedächtnis als eine Art globales Apokalypse-Szenario einschreiben?
Ettl:
Wenn wir es mit einem anderen kollektiven Bedrohungsszenario aus der Geschichte vergleichen, nämlich mit dem Kalten Krieg und der damals ständigen Angst vor atomaren Angriffen, dann gibt es hier einen Unterschied. Wenn jemand einen Knopf drückt und eine Atombombe ausgelöst wird, ist es vom Menschen gemacht. Das gibt uns wiederum das Gefühl, dass es eine gestaltbare Situation ist und dass man verhandeln kann. Zudem hat eine Atombombe eine schreckliche, aber dennoch lokale Begrenzung. Tschernobyl war eine große Katastrophe, und die Strahlenwerte waren bei uns auch erhöht. Aber das, was die Pandemie so ungewöhnlich macht, ist, dass man ihr nicht entkommen kann. Man kann nirgendwohin flüchten, sondern sie ist überall. Bei anderen Katastrophen packe ich mein Zeug und gehe an einen sicheren Ort, wenn es möglich ist. Doch jetzt kann uns der unsichtbare Feind sowohl auf der Alm erwischen als auch in der Großstadt. Das ist sicherlich eine neue Situation.

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