"Und alle, die hier leben"

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Das Bemühen von Politiker(inne)n, durch eine Zusatzformel niemanden auszugrenzen, wird durch ihre Rhetorik konterkariert. Ulrich H.J. Körtner über Identität, Zugehörigkeit und Zusammenhalt in Corona-Zeiten.

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Das Bemühen von Politiker(inne)n, durch eine Zusatzformel niemanden auszugrenzen, wird durch ihre Rhetorik konterkariert. Ulrich H.J. Körtner über Identität, Zugehörigkeit und Zusammenhalt in Corona-Zeiten.

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Liebe Österreicherinnen und Österreicher – und alle, die hier leben!“ Wie oft haben wir diese Anrede in den letzten Monaten, Wochen und Tagen vom Bundespräsidenten abwärts gehört. In der Corona-Pandemie, so sind die Worte wohl gemeint, bilden alle Bewohnerinnen und Bewohner dieses Landes eine Schicksalsgemeinschaft, ganz gleich woher sie kommen und ob sie einen österreichischen Pass besitzen oder nicht. Wir alle müssen zusammenhalten und das Unsrige zum Kampf gegen das Virus beitragen, das keinen Unterschied zwischen Inländern und Ausländern macht. „Schau auf dich, schau auf mich. So schützen wir uns.“

Doch Obacht! Das Virus macht vielleicht keinen Unterschied, Politiker schon – und auch die Medien, die ihre Rhetorik übernehmen. Die inklusive Anrede, bei der sich wirklich jeder angesprochen fühlen soll, unterläuft ihre eigene Absicht, weil sie uns einmal mehr den Unterschied zwischen Österreichern und dem Rest der Bevölkerung unter die Nase reibt. Manchmal genügt schon die kleine Atempause, die vor den Worten „und alle, die hier leben“ eingelegt wird.

Ich will gar nicht unterstellen, dass dies immer in der Absicht geschieht, den Unterschied zwischen Österreichern und Nichtösterreichern ja nicht unter den Tisch fallen zu lassen. Eher wirkt es bisweilen so, als hätte ein Politiker um ein Haar den neuen Inklusionssprech vergessen, den ihm die Spindoktoren eingetrichtert haben. Tatsächlich ist es noch gar nicht so lange her, dass sich politische Ansprachen ausschließlich an alle Österreicher und irgendwann auch an alle Österreicherinnen gerichtet haben. Inzwischen hat man dazugelernt, aber das neu Gelernte kommt eben nicht immer flüssig über die Lippen. Im Verlauf von Pressekonferenzen und politischen Reden kann die direkte Anrede an alle übrigen Menschen, die halt auch in Österreich leben, dann auch schnell wieder wegfallen.

Paradoxe Rhetorik

Das Ergebnis ist paradox: Das Bemühen, das Zugehörigkeitsgefühl und Zusammengehörigkeitsgefühl in der Gesellschaft zu stärken, wird durch die von der Sorge um die nationale Identität getriebene Rhetorik konterkariert. Selbst noch in dem Moment, wo man sich angesichts der Pandemie als Schicksalsgemeinschaft verstehen soll, wird mittels der nationalen Rhetorik eine Abgrenzung vollzogen. In dem Moment, wo dann auf den neuen Zusatz „und alle, die hier leben“ vergessen wird, schlägt die Abgrenzung in erneute Ausgrenzung um.

Wir erinnern uns noch gut an die ersten Wochen im Lockdown am Beginn der Corona-Pandemie und an die Bilder der Menschen, die den „Heldinnen und Helden des Alltags“, wie man sie nannte, auf Balkonen und an offenen Fenstern abends um 18 Uhr Beifall spendeten: den Verkäuferinnen und Verkäufern, Polizistinnen und Polizisten, den Ärztinnen und Ärzten, Sanitäterinnen und Sanitätern und ganz besonders den Pflegekräften. Aus den Lautsprechern der Polizeifahrzeuge, die durch die Straßen fuhren, tönte unsere heimliche Nationalhymne: Reinhard Fendrichs „I am from Austria“.

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