Maskenball - © Foto: iStock/Alina555

Corona: Unsere virale Zukunft

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Die vielen Fragezeichen der Coronakrise heben unsere bisherige Welt aus den Angeln. Mit welchen Einschränkungen wir künftig rechnen und an welche Ambivalenzen wir uns gewöhnen müssen.

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Die vielen Fragezeichen der Coronakrise heben unsere bisherige Welt aus den Angeln. Mit welchen Einschränkungen wir künftig rechnen und an welche Ambivalenzen wir uns gewöhnen müssen.

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Gesellschaften, besonders vom wohlhabenden Typus, trotten vor sich hin. Das Leben läuft, ziemlich schnell. Von Auto bis Zahnarzt. Partner(in). Umsiedeln. Kinder und Kuchen. Wahlen und Waschmaschine. Rasen mähen und Smartphone kaufen. Erkältung. Bier trinken. Formel 1. „Tatort“. Und dann das Virus. Pandemie und Lockdown. Maske. Veranstaltungs-, Sport- und Reiseverbot. Vieles, was gelaufen ist, läuft nicht mehr. Was selbstverständlich war, entgleitet. Was man verbürgt wähnte, ist gefährdet. Echtes Risiko statt bloßes Risikogerede. Epidemie gestern hieß: 10.000 Tote in Zentralafrika, am Rande der Wahrnehmung. Epidemie heute heißt: eine handfeste, gegenwärtige, alltägliche Körper- und Lebensbedrohung. Wohin gehen wir?

Die Zukunft ist „zwischendrin“

Das heißt: Die große Apokalypse (Diktatur, Ausnahmezustand, Kollaps) wird wohl nicht stattfinden, aber auch nicht das von manchen verkündete Post-Corona-Paradies – weil eben die Menschen durch die Krise erkannt hätten, worauf es im Leben wirklich ankomme, nämlich Solidarität, Zusammenhalt, Gemeinschaft. Doch den „neuen Menschen“ wird es nicht geben. Dennoch werden sich (zwischen diesseitigem Himmel und Hölle) die Weltbilder verschieben. Spätmoderne Selbstverständlichkeiten werden „irritiert“. Die Welt schaut ein wenig anders aus.

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Die Zukunft ist „natürlich“

Einen großen Teil unseres Wohlbefindens, langes Leben, körperliche Robustheit verdanken wir den atemberaubenden Fortschritten der Medizin und des Gesundheitswesens in den letzten eineinhalb Jahrhunderten. Sie schenken mehrere Lebensjahrzehnte, und das hat uns übermütig werden, ja die Tatsache vergessen lassen, dass wir allemal hinfällige körperliche Wesen sind. Am Ende bleibt vielleicht ein Impuls, nicht mehr, zur Erkenntnis, dass wir uns in einem fragilen Anthropozän mit anderen „Lebewesen“ befinden. Die Welt verhält sich in mancher Hinsicht wie ein physiologisches System: Innerhalb von Grenzen stabilisiert sie sich selbst. Sie kann aber auch zusammenbrechen.

Die Zukunft ist nicht „normal“

Kurzfristig erleben wir das Urlaubs problem. Im Herbst werden wir das Schulproblem erleben: mehr als eine Million Menschen in ständiger Interaktion, das wird etwas bewirken. Als die Verhaltenseinschränkungen akzeptiert wurden, glaubte man, dass es sich um eine Sache von einigen Wochen handelt. Es sind schon Monate.

Das Biest bleibt, es wird vermutlich nicht ausgerottet werden können. Außerdem ist die Pandemie ein globales Ereignis, die schwächsten Länder definieren also die Situation.

Manfred Prisching

Es werden Jahre. Möglicherweise wird sie nie vorbei sein. Man verweigert sich dieser Erkenntnis. Das Problem ist ja nicht, dass es pro Jahr tausend Tote in Österreich geben kann; das nehmen wir bei anderen Infektionen auch in Kauf. Das Problem ist vielmehr, dass es beachtlicher Einschränkungen bedarf, um die Todesrate überhaupt auf diesem Niveau zu halten.

Die Zukunft ist eine Virus-Zukunft

Das Biest bleibt, es wird vermutlich nicht ausgerottet werden können. Zudem ist die Pandemie ein globales Ereignis, und die spätesten, schwächsten Länder definieren die Situation. Darunter sind die Elefanten (wie Indien, USA, Brasilien), und sie sind zum Teil noch in der Exponentialität. Die Seuche breitet sich aus. Alle hoffen auf die immunitätssichernde Impfung, die uns von der „Natürlichkeit“ befreien soll. Doch alles ist unsicher: Wie gut und wie lange wirkt sie? Wie schnell kann man für Milliarden produzieren? Wird sie durch Mutationen überholt? Wie lange dauert es, bis mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung geimpft ist? Alsbaldige Normalität ist eine höchst unwahrscheinliche Vision.

Die Zukunft bringt Wirtschaftsschwäche

Die wirtschaftlichen Folgen waren bis jetzt – trotz allem – beinahe harmlos, vor allem wegen der staatlichen Durchfinanzierung in unzähligen Programmen. Es galten keine budgetären und administrativen Beschränkungen. Die Regierungen pflegten flexible Lockerheit angesichts einer Notlage, die an die biologischen Grundlagen unserer Existenz rührt. Aber wenn das Füllhorn ein Ende findet, endet auch die Existenz vieler Betriebe. Die zweite virologische Welle ist ungewiss, gewiss ist die zweite Welle im Wirtschaftsleben. In den nächsten Jahren folgt Nachfrageschwäche, ob aus Angst oder Unlust, aus Bescheidenheit oder der Verfügbarkeit von Substituten (wie Videokonferenzen). Business-Verkehr niedrig. Auslandstourismus niedrig: Es wird dauern, bis die chinesischen Gruppen wieder den Stephansplatz und die Konferenztouristen die Stadthotels bevölkern werden. Globalisierung bleibt bestehen, rutscht aber dorthin, wo sich schon viele Kulturelemente befinden: in die Ambivalenz.

Die Zukunft ist postpoststaatlich

Wir haben die Rückkehr der Nationen erlebt: Das Virus ist global und universell, aber auch sehr national. Keine Rede mehr vom Untergang der Nationalstaaten in der unentrinnbaren Vernetzung. Sie waren die Akteure, bei aller Austauschfreudigkeit der Wissenschaftler und trotz aller Subventionierungsnotwendigkeiten der (politisch und wirtschaftlich) schwächelnden EU-Mitglieder. Wer sonst als die Staaten? EU in der Krise. Aber GB in Geistesverwirrung. USA im freien Fall.

Die Zukunft ist nicht mehr so bequem

Die heutige medialisierte und entertainisierte Kultur hat bislang von Massenverbreitung, Anstrengungsverzicht, Zugänglichkeit, Leichtfertigkeit, Oberflächlichkeit, Allgleichzeitigkeit, Schnelligkeit gelebt. Die Bequemlichkeiten des Ambientes wurden bewusst, als sie unterbunden wurden, als die Leichtigkeit des Seins containerisiert wurde, als der Rhythmus behaglicher Events zum Erliegen kam. Plötzlich Stille. Man starrt sich ins Gesicht. Die Identitätsstilisierung war ohnehin meist massengelenkter Konformismus. Aber vielleicht bleiben doch kleine Impulse des Nachdenkens, bei manchen.

Die Zukunft verspricht gewisse Deprimiertheit

In der öffentlichen Diskussion werden alle Heucheleien und Stupiditäten hochgespült. Nichts kann so offensichtlich sein, dass es nicht bestritten würde. Es äußern sich Juristen mit mangelhafter Hermeneutik, Ärzte ohne epidemiologische Kenntnisse, Betroffenheitsspezia- listen und Psychostilisierer. Die üblichen Verschwörungstheorien über Juden und Aliens, Pharma- oder IT-Konzerne boomen. Neuere Versionen sind sprachlich elegante Kommentare von (linken und rechten) Menschen, die sich als Intellektuelle inszenieren, in einer Mischung aus Bosheit und Geltungsbedürfnis, Egozentrik und Exzentrik – und natürlich, wie immer auf der klassischen Suche nach Sündenböcken.

Die Zukunft brauchte Krisenmanagement und Szenarienfantasie

Aus der Krise lernen ist nicht verboten. Bislang war sie ziemlich komfor tabel: Alle relevanten Versorgungs- und Infrastruktureinrichtungen sind in Betrieb geblieben, unter schätzenswerter Leistung des Personals. In kommenden Notlagen muss dies nicht so sein, etwa im Falle eines Blackouts. Dann könnten wir an die historischen Fälle erinnert werden, in denen Krisen das Schlimmste im Menschen emporgespült haben. Das Virus ist kein Ausreißer, wir wussten seit Jahrzehnten, dass eine zoonotische Infektion jederzeit zur großen Pandemie werden kann. Das steht in allen Papieren, die in allen Schubladen gelegen sind, aber als Geschwätz nicht ernst genommen wurden. Es gibt keinen Grund zur Panik, aber vielleicht könnten wir uns besser vorbereiten, zum Beispiel auf die bevorstehenden Klimakrisen?

Manfred Prisching ist Soziologe und Buchautor.

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