Venedig im Lockdown - © Foto: picturedesk.com / Hans Ringhofer

Corona: Die Krise als Wahrheitsmoment

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Corona stellt das Wirtschaftssystem und unseren Lebenswandel auf den Prüfstand. Die Diskussion über künftige Kursveränderungen muss von einer gewichtigen Frage ausgehen: Was ist von Wert?

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Corona stellt das Wirtschaftssystem und unseren Lebenswandel auf den Prüfstand. Die Diskussion über künftige Kursveränderungen muss von einer gewichtigen Frage ausgehen: Was ist von Wert?

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„Der Winter kommt“ heißt es in der Kultserie „Game of Thrones“ – und mehr denn je kann man diesen Spruch mit der drückenden Unbestimmtheit dieses Corona-Winters in Verbindung bringen. Wir wissen, dass wir uns warm anziehen müssen innerlich, dass wir durchhalten müssen und dass wir noch nicht einmal wissen, was nach diesem Winter sein wird. Wird die Wirtschaft zusammenbrechen? Das Finanzsystem? Wird das Leben danach genau so weitergehen können, wie wir es bisher kannten und mochten?

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Alain Badiou erklärt uns in seiner Philosophie die Natur der „Wahrheitsmomente“: Ereignisse, die sich eigentlich in jeder Zeit von Neuem ereignen und die so gravierend sind, dass wir das Leben danach rückwirkend anders beurteilen, ebenso wie wir anders aufgestellt in die Zukunft gehen. Das Ereignis erschließt uns eine tiefere Wahrheit von dem, was war, was wir nicht sehen wollten oder konnten, und was sich nun so brutal offenbart, dass wir nicht mehr wegschauen können.

Sinnlose Überdigitalisierung

Die Coronakrise ist so ein besonderes Ereignis. Ein Wahrheitsmoment in unserer modernen Geschichte. Uns, die wir doch glaubten, der Herr über das Schicksal zu sein, über Seuchen, Armut und Krankheit, die wir im Nu beherrschen, mit einer Wissenschaft, die just in time liefert, so durchoptimiert sie doch ist. Wir, diese Gesellschaft der Moderne, der Vernunft, der Wissenschaftsgläubigkeit und der Effizienz, werden im Rausch unserer Geschwindigkeit auf den nackten Boden der Tatsachen zurückgerufen: Dass wir nichts sind als Natur, fragile Menschen, Wesen mit Ängsten, Hoffnungen und Meinungen, die sich der Hybris hingegeben hatten zu glauben, sie hätten alles unter Kontrolle und seien frei zu tun, was immer sie wollen. „Ich denke, also bin ich!“, sprach Descartes und prägte unsere Zeit, bis Corona kam. Seitdem wissen wir: Ich kann so viel denken wie ich will, es ändert nichts an den großen Zügen des Lebens, in das ich hineingeworfen bin. Nichts konnte in dieser Hinsicht lehrreicher sein als diese Corona-Ohrfeige, die ein Klaps der Natur ist in Vergleich zu dem, was sie uns in Wahrheit hätte antun können, wenn sie uns eine echte Seuche wie die Pest oder Ebola geschickt hätte.

Eine Echokammer kämpft gegen das nächste taube Zimmer. Und das führt – gerade zu Coronazeiten – immer mehr zu politischen Konflikten.

Zurückgeworfen in die Langsamkeit, beschnitten in Reichweite, ausgesetzt unserer eigenen Hilflosigkeit, Rastlosigkeit und Langeweile, fragen wir uns nun in unserem rasenden Stillstand: Was ist, wenn der Winter kommt – und was kommt danach? Das Schöne ist, um auf „Game of Thrones“ und andere Märchen zurückzukommen: Am Ende sollte immer alles gut ausgehen. Die Guten gewinnen immer. Nur: Was oder wer ist/sind eigentlich heute noch die Guten? Oder was ist das Gute? Sind wir – jenseits von Geld – überhaupt noch in der Lage, das als Gesellschaft einheitlich zu benennen?

Wäre es etwa gut, wenn nach Corona alles dorthin zurückkehrte, wo wir im Februar dieses Jahres unser altes Leben verlassen haben? Glauben wir, dass unser Wirtschafts-, Bildungs- und Politikprogramm so gut war, dass wir es unbedingt genauso zurückhaben wollen, obgleich es sich doch schon seit 2008 nur noch so dahingeschleppt hat? Getrieben von einem außer Rand und Band geratenen Kapitalmarktdruck, bedroht von einem schwankenden Geldsystem, verführt zu einer sinnlosen Überdigitalisierung, gekennzeichnet von verödeten Dorfstrukturen, ausgesetzt einer nie da gewesenen Umweltzerstörung und verlassen von Superreichen und Politikern, die eine Systemwende nicht unterstützen mögen, weil keiner gerne an dem dicken Ast sägt, auf dem er gerade gut sitzt.

Ich glaube nicht, dass alle so viel Gutes in unserem Wirtschaftssystem und Lebenswandel sehen, dass wir pauschal alles behalten wollen. Und wer auf unsere Straßen schaut, kann sich ein Bild von diesem geteilten Ruf nach Veränderung machen. Nur: Was gilt es zu ändern und was zu bewahren? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir besser erkennen lernen, was wahrhaft von Wert ist. Und ich benutze dabei ganz bewusst die Formulierung „was von Wert ist“ und nicht, was uns (persönlich) von Wert erscheint.

Die Moderne seit Descartes hat die Idee verfolgt, dass ich oder Du uns ausdenken können, was von Wert ist. Wir „designen“ in dieser Descart‘schen Denktradition die Welt so, wie sie uns gefällt. Meine Meinung, Deine Meinung. Jeder hat die Freiheit, mit seiner persönlichen Meinung glücklich zu werden. „Ich“ ist das Schlagwort unserer Zeit. „Die Welt gibt es nicht“, provozieren Philosophen. Wenn Wert in der Welt ist, dann sei das nur „Kopfkino“, meinen viele moderne Wissenschafter. So soll jeder sie bespielen, wie er will. Das ist Freiheit. Ob die Welt dabei zu kurz kommt? Unwichtig. Und die sozialen Netzwerke, die gefährlichsten Katalysatoren dieses Mythos, nehmen diese Verirrung des Freiheitsbegriffs nur zu gern auf und bieten jedem eine passende virtuelle Echokammer an, um gemeinsam mit ein paar anderen Versprengten die persönlichen Werte oder andere goldene Kälber zu beschwören.

Sackgasse des modernen Denkens

Das Problem ist nur: Fast jeder hat ein etwas anderes Bild von der Welt und wie sie sein sollte. Eine Echokammer kämpft gegen das nächste taube Zimmer. Und das führt – gerade zu Coronazeiten, wo viele online Zeit verbringen – immer mehr zu politischen Konflikten. Ob rund um die US-Wahlen, Corona-Maßnahmen-Akzeptanz, Abtreibungsrechte, Flüchtlingsbehandlung etc. Es scheint als gäbe es keine klare Antwort auf die Frage mehr, was gut ist und was nicht. Und damit auch nicht darauf, was es nach Corona zu bewahren oder zu ändern gilt. Wie kommen wir aus dieser Sackgasse des modernen Denkens und Handelns heraus?

In meinem Buch „Digitale Ethik“ beschreibe ich – auch jenseits des Digitalen –, dass wir neu lernen müssen zu erkennen, welche Werte in der Welt sind und nicht in unserem Kopf. Was ist, und nicht, was wir erwarten. „Prüfet alles, behaltet das Gute.“ (Paulus) Im Mittelpunkt dieses Prüfens steht eine Auseinandersetzung mit dem Gegebenen, mit den Werten, die in der Welt sind, in unserem politischen und wirtschaftlichen System, im Arbeitsverhältnis, in meinem privaten Umgang. Nicht was ich sehen will, zählt bei dieser Prüfung: „Das Ich ist nicht Ausgangspunkt der Erfassung oder gar der Produzent von Wesenheiten.“ (Max Scheler) Insofern zählt nicht die kritische Diskrepanz zu den Dingen, die mich zum Zyniker werden lässt, weil ich mir alles anders vorgestellt habe. Stattdessen zählt einfach nur, was ist.

Das ist die erste Frage: Was ist von Wert? Eine zeitfüllende Frage für einen langen Corona-Winter, die sich hoffentlich so mancher Politiker, Manager oder Private stellen mag.

Die Autorin ist Professorin an der Wirtschaftsuniversität Wien. Ihr Buch „Digitale Ethik. Ein Wertesystem für das 21. Jahrhundert“ ist 2019 im Droemer-Verlag erschienen.

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