"Ein riesiger Hokuspokus"
Sarah Spiekermann warnt davor, dem Sirenengesang vom digitalen Wandel auf den Leim zu gehen - und plädiert für ethisches IT-Design.
Sarah Spiekermann warnt davor, dem Sirenengesang vom digitalen Wandel auf den Leim zu gehen - und plädiert für ethisches IT-Design.
Was es heißt, vom "digitalen Fieber" gepackt zu werden, weiß Sarah Spiekermann aus eigener Erfahrung. Die gebürtige Düsseldorferin war Anfang 20, als sie von der "New Economy" gleichsam aufgesogen wurde. Mitte der 1990er-Jahre landete sie bei der Firma 3-Com, damals eines der Geburtshäuser der Digitalisierung im Silicon Valley. Es stellte Produkte her, mit denen man ein weltweites Netzwerk besuchen konnte, das erst kürzlich bei der Europäischen Organisation für Kernforschung (CERN) erfunden worden war - das "World Wide Web".
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Bei der aufregenden ersten Internetphase war die Wirtschaftsinformatikerin vorne mit dabei. "Die IT-Szene war bunt und kosmopolitisch", erinnert sie sich. "Neue Ideen schwirrten durch die Köpfe, die Stimmung war euphorisch." Ein "globales Dorf", ein unglaubliches Friedensprojekt, ein weiter Raum voller Kreativität schienen sich am Horizont eines neuen Zeitalters aufzutun. Vordenker glaubten, dass weltweite Vernetzung die menschlichen Entfaltungsmöglichkeiten nun auf eine neue Stufe heben würde. So wie Sarah Spiekermann, die damals zwischen Berlin, Paris, London, Stockholm und Redwood City im kalifornischen Silicon Valley pendelte.
Gegen den Mainstream
Doch ihr Glaube wurde rasch getrübt. Es kamen die Terroranschläge vom 11. September 2001, und schon bald wurde das Internet in einen gigantischen Überwachungsapparat verwandelt. Bald auch kam die Ernüchterung, dass digitale Systeme viel fehleranfälliger sind als Techno-Gurus, Manager und Politiker gerne zugeben wollen. Spiekermann arbeitete inzwischen bei einem anderen IT-Unternehmen, in dem falsche Zahlen und geschönte Realitäten zur Tagesordnung gehörten. Informationschaos und "situationselastische" Zukunftsmodelle bestimmten die wirtschaftlichen Prognosen. Die Erfolgskurve bei Spiekermann selbst zeigte zwar nach oben, doch ihr kritischer Geist war geweckt: Damit begannen die süßen Träume von der neuen digitalen Welt zu zerbröseln. Und zwar nachhaltig. Spiekermann verließ die Industrie und ging in die Wissenschaft. Heute ist sie Professorin an der Wiener Wirtschaftsuniversität, wo sie dem Institut für Wirtschaftsinformatik und Gesellschaft vorsteht. Und mittlerweile selbst eine Vordenkerin, die gegen den Mainstream der technologieberauschten Fortschrittsvisionäre schwimmt.
Die eigene Geschichte hat sie in ihr neues Buch "Digitale Ethik" (Droemer/Knaur, 2019) gleich mit hineingepackt. Und dieses persönliche Narrativ von Einsicht und Umkehr fügt sich gut in das größere Bild einer Gesellschaft, die offensichtlich an einem kritischen Punkt des Fortschritts angekommen ist. "Wir stehen an einem Scheideweg, denn die fortschreitende Digitalisierung kann uns auch zum Nachteil gereichen", sagt Spiekermann im Gespräch mit der FURCHE. "Ausgehend vom Silicon Valley versucht eine gigantische Marketing-Maschinerie, regulative Ideen in den Köpfen der Menschen zu verankern. Deren Kernaussage ist, dass Digitalisierung immer die bessere Lösung wäre." Dem widerspricht sie in ihrem Buch gnadenlos: Neu ist nicht automatisch gut, und digital ist nicht gleich besser -das ist die zentrale Botschaft ihres wegweisenden Werks, das darauf abzielt, digitale Produkte und Services von Grund auf neu zu denken. Wirklichen Fortschritt kann man nur dann schaffen, wenn wir uns bei jeder digitalen Nutzung von Anfang an die Wertfrage stellen, ist Spiekermann überzeugt: Welche Werte werden durch die Digitalisierung in die Gesellschaft gebracht? Werden etwa Freiheit und Freundschaft, Solidarität und Schönheit freigesetzt oder zerstört, gefördert oder untergraben?
"Bio" für die Informatik
In der Informatik gibt es bisher keine Tradition, Technik ethisch wertvoll zu gestalten. So etwas wie "Bio-Konsum" - qualitätsbewusst, hochwertig, nachhaltig - ist in der digitalen Nutzung noch nicht angekommen. "Heute denkt man beim Produktdesign vor allem über Effizienz, Beschleunigung und Einsparungen nach", sagt Spiekermann. "Das aber ist nicht das wahre Potenzial der Digitalisierung. Es geht um die positiven Werte, die verwirklicht werden können." Umgekehrt droht ein Rückschritt, wenn unlautere Motive im Hintergrund stehen, wie die Autorin schreibt - "etwa weil wir IT-Systeme so entwickeln oder nutzen, dass wir unsere Freiheit verlieren, immer dümmer werden, weil wir Wissen in Maschinen auslagern, unsere Privatheit aufgeben, unsere Gesundheit ruinieren oder sogar zu flachen Persönlichkeiten werden".
Facebook zum Beispiel verhindere das Kultivieren tiefer Freundschaften: Wenn die gesamte Kommunikation aufgezeichnet und u. U. weiterverkauft wird, fehlt der private Rahmen für enge Beziehung und ehrlichen Austausch, meint Spiekermann. Zudem ist Facebook daraufhin konstruiert, möglichst viel Aufmerksamkeit der Nutzer zu beanspruchen. Das hat Ex-Facebook-Präsident Sean Parker, der 2005 aus dem Konzern ausgetreten ist, letztes Jahr freimütig eingestanden: Die Architekten der sozialen Plattform trachteten danach, dass die Nutzer in ihrem Netzwerk hängenbleiben und hatten es dabei auf eine Schwäche in der menschlichen Psyche abgesehen. Sie sorgten dafür, im Rahmen der Interaktionsmöglichkeiten kleine "Dopamin-Kicks", also wiederholte Belohnungseffekte im Gehirn der Nutzer auszulösen. Ähnliches bewirken diverse Apps, Glücksoder Computerspiele. Die High-Tech-Unternehmer im Silicon Valley wissen, dass man User über den Botenstoff Dopamin an das Produkt binden kann. Es ist derselbe Klebstoff, der auch bei einer Drogensucht ins Spiel kommt, denn das menschliche Belohnungssystem ist anfällig für Abhängigkeiten aller Art. Wer es zu manipulieren versteht, dem winken hohe Profite wie beim Drogenhandel.
Spiekermann zeigt, dass IT-Systeme auch so entwickelt werden können, "dass sie uns nicht süchtig machen, uns nicht in Grandiosität bestärken, uns nicht ins Netz einweben". Wert-sensitives Design heißt der von ihr begründete Ansatz: Um die Folgen einer neuen Entwicklung abzuschätzen, sollte man zunächst die Werte, die Motive und Intentionen betrachten, die ihr zugrunde liegen. Am Anfang steht also die Philosophie - und die hehre Auffassung, dass immaterielle Werte gehaltvoller, erfüllender sind als rein materielle Werte. Das übergeordnete Ziel in Spiekermanns Stoßrichtung ist ein gutes Leben ("Eudaimonia"), und da ist Geld nur eine "Randbedingung". Das läuft der Logik des "Überwachungskapitalismus" (Shoshana Zuboff) gegen den Strich. Wie könnte eine digitale Ethik hier Aufwind erhalten?
Schönere Technik
Faktum ist, dass sich manche technische Neuerungen wie von selbst verkaufen. Das Internet, Smartphones, soziale Netzwerke und Musikstreaming haben unseren Alltag wie im Nu erobert. Analog dazu gibt es am Markt der digitalen Produkte sicher noch Raum für nachhaltige Angebote, deren Wertversprechen selbst einem Blinden einleuchten. Die Notwendigkeit eines ethischen IT-Designs müssten freilich nicht nur die Konsumenten, sondern auch die politischen Kräfte erkennen. "Die aktuellen Erzählungen vom digitalen Wandel sind extrem kritisch zu betrachten", resümiert Spiekermann. "Das ist ein riesiger Hokuspokus, an den dummerweise fast alle glauben." Auch sehr viele Politiker, die in ein Netz von Lobbyisten verstrickt seien, die alle an der lukrativen Geschichte verdienen. Ethisch wertvolles Technikdesign gesetzlich vorzuschreiben, ist womöglich ähnlich unrealistisch wie die Umsetzung einer klimafreundlichen Steuerreform im Sinne der kommenden Generationen.
"Wir sind ja erst im Kindergarten eines neuen technischen Zeitalters", zeigt sich die Autorin letztlich zuversichtlich. Sie liebt das Freigeistige, sprüht vor Ideen. "Die wertebasierte Systementwicklung könnte ein spezifisch europäischer Weg sein, der mit der Datenschutz-Grundverordnung schon eröffnet ist. Vielleicht ist das der Anfang für etwas viel Größeres: Wir könnten doch eine bessere, schönere, ehrlichere Technikwelt erschaffen."
Digitale Ethik
Ein Wertesystem für das 21. Jahrhundert
Von Sarah Spiekermann
Droemer/Knaur 2019
304 S., geb., Euro 20,60
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