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Digital In Arbeit

Wird der Mensch wieder zum Neandertaler?

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Datenautobahn - das Wort hat einen wahren Medienrummel ausgelöst. Dahinter steckt mehr als nur eine technologische Revolution.

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Datenautobahn - das Wort hat einen wahren Medienrummel ausgelöst. Dahinter steckt mehr als nur eine technologische Revolution.

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Spätestens seit Ende Februar ist es nicht nur für Technologieanhänger klar: Wir stehen vor einem' einschneidenden Strukturwandel, einem neuen technologischen Zeitalter, vor einer digitalen Revolution, die das Gesicht der Menschheit gravierend verändern wird.

Diese Einschätzung wird jedenfalls seit der Brüsseler Konferenz der sieben großen Industrienationen der Welt (G-7: USA, Kanada, Japan, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien) unablässig suggeriert. Dort konferierten die mächtigsten Politiker mit den 45 wichtigsten Industriellen der Welt aus dem Bereich der Telekommunikation. Das 'Thema: die Festlegung gemeinsamer Spielregeln für den Aufbau einer weltweiten Informationsgesell-schaft.

„Freie Bahn für alle Daten und Informationen!” Die entsprechende Industrie der westlichen Welt steht längst in einer neuen Startposition, die Neuausrichtung der Technologiekonzerne ist in vollem Gang. In Gedanken rasen die Visionäre einer total vernetzten Gesellschaft bereits sekundenschnell auf sogenannten „Datenautobahnen” um die ganze Welt.

Was steckt hinter dieser Vision? Technisch gesehen geht es eigentlich gar nicht um Sensationelles. Im Grunde sollen nur bereits vorhandene Bausteine miteinander verknüpft werden, nämlich Telefon, Fernsehen, Computer und Modem. Das entsprechende Schlagwort ist längst bekannt: „multi media”. Text, Grafik, Ton und Video werden in einem Programm oder auf einem Gerät zusammengefaßt.

Technisch ist es bereits möglich, Bild und Ton in dieselbe „Sprache” wie andere Computerdaten (Buchstaben, Zahlen) zu vereinheitlichen. Ebenso können sie gespeichert und transportiert werden. Die Methode dafür nennt man „Digitalisierung”. Für die künftigen Übertragungsnetze (Glasfaserkabel, Satellitenverbindungen) dieser digitalisierten Informationen wurde der Name „Datenautobahnen” kreiert. Die Amerikaner formulierten es noch eine Spur sensationeller. Für sie wird das ein „Super Information Highway”.

Diese neue Technik wird das ermöglichen, was wir derzeit nur vom Telefon kennen: der Empfänger nimmt Nachrichten, Daten und Informationen nicht einfach nur passiv entgegen. Er kann reagieren, selbst Informationen einspeisen, abrufen, beantworten. Er produziert statt nur zu konsumieren. Dafür steht das Schlagwort „interaktiv”. Es wird möglich sein, nicht nur Bankgeschäfte von zu Hause aus (Tele-Banking) zu erledigen, bequem Einkäufe über Bildschirm (Home-shopping) zu tätigen oder Videofilme auf Knopfdruck („video on de-mand”) einfach ins Haus zu holen. Beispielsweise können Hobbyköche weltweit elektronisch ihre Bratanleitungen austauschen, Kunstliebhaber zu Hause einen virtuellen Spaziergang durch die tollsteh Museen der Welt machen. Ärzte sind imstande, als medizinisches Konsilium aus allen Teilen der Welt via Bildschirm bei schwierigen Operationen ihre Batschläge beizusteuern

(Tele-med). In diese weltweite Datenautobahn, mit Verbindungen zwischen Tausenden großen und kleinen Netzen, wird sich jeder einklinken können. Am Ende werden alle Teilnehmer Zugriff auf alle gewünschten Kommunikations- und Informationsdienste der Welt haben, 'unabhängig von Zeit und Raum. So formulierte es der amerikanische Vizepräsident und Polit-Visionär AI Gore.

Derzeit steht der Realisierung zum Leidwesen der ungeduldigen Wirtschaftsbosse aber noch ein kleines Problem im Weg: Diese Datenautobahnen müssen viel leistungsfähiger sein als die derzeit bestehenden Übertragungsleitungen; das verschlingt immense Summen. Wer soll das bezahlen? In Europa müssen außerdem erst die einzelnen nationalen Leitungen standardisiert werden. (So wie vor Jahrzehnten die Eisenbahnschienen harmonisiert wurden, damit die Züge über die Grenze fahren konnten.)

Bei der Tagung der G-7 ging es daher auch darum, gemeinsame Standards für die Verwirklichung dieser Pläne zu schaffen. Dazu gehört nicht nur die Angleichung der verschiedenen Übertragungssysteme, sondern auch die Regelung des Zugangs zu den Netzwerken. Europas Politiker stehen jedenfalls nicht auf der Leitung. Sie sagen: „Anschluß für alle Haushalte”, das schaffe Arbeitsplätze und den dringend benötigten Wachstumsschub.

Nicht nur die Telekommunikationskonzerne, die die entsprechenden Strukturen einrichten wollen, rechnen sich mit der Entfesselung einer Daten- und Informationsflut Chancen aus. Auch die Programmanbieter wittern Morgenluft. Immer wieder fällt das Stichwort von 500 möglichen Fernsehkanälen, der Bildschirm-Zeitung und anderer Dienstleistungen (CD-Rom, Pay-TV).

Wem nützt das alles?

Die Geschichte hat nur einen Haken: Niemand vermag genau zu sagen, für wen das alles überhaupt gut sein soll? Wie macht man die ganze Sache rentabel? Wer soll auf dieser Autobahn auffahren dürfen? Wer darf an den Mautstellen abkassieren? Wie wird sich die Überlagerung der Gesellschaft mit einem globalen Datennetz auswirken? (Ganz zu schweigen von den Entwicklungsländern, deren Hunger nach der totalen Kommunikation sich wohl in Grenzen halten wird.) Welche Konsequenzen ergeben sich daraus für uns selbst?

Lesen Sie dazu eine Einschätzung auf Seite 10 und ein Interview mit dem Grazer Kultursoziologen Manfred Prisching. Seine Befürchtung: die Mehrheit der Gesellschaft wird zu einer massenmedial berieselten Konsummaschine degenerieren.

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