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Digital In Arbeit

Letzter Ausstieg aus dem Computer

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Wer immer mehr Zeit vor seinem Computer verbringt, verliert allmählich den Kontakt zur „wirklichen" Welt. Neben mehr Informationen kommen aber auch Einsamkeit und Isolation.

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Wer immer mehr Zeit vor seinem Computer verbringt, verliert allmählich den Kontakt zur „wirklichen" Welt. Neben mehr Informationen kommen aber auch Einsamkeit und Isolation.

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Vor einigen Monaten, so berichtete dieser Tage die „New York Times", verübte ein sogenannter „Compuserve"-Teilnehmer in Kalifornien Selbstmord. Er schluckte eine Überdosis Schlaftabletten. Ein Selbstmord wie j eder andere? Nicht ganz. Die Polizei fand nämlich heraus, daß der Tote schon längere Zeit in völliger Isolation gelebt hatte. Seine Kontakte zur Außenweit beschränkten sich Nacht für Nacht auf elektronische Datenaussendungen über seinen Computer. Auf diese Weise verfügte er über ein ganzes Netz von Beziehungen mit anderen Teilnehmern. Aber eben nur via Bildschirm. Sein eigentliches Leben vollzog sich letztlich nur mehr über sein „Elektronengehirn" . Bis zu dem Tag, an dem er den „Partner" nicht mehr ertragen konnte. Er beging Selbstmord.

Vor seinem physischen Tod, so ergaben die Ermittlungen, löschte der Vereinsamte fein säuberlich alle persönlichen Daten (Name, Anschrift, Kontaktnummer) im Zentralcomputer seines Netzwerkes. Dieser letzte Ausstieg aus dem Computerleben war für ihn im Grunde schon der eigentliche Tod.

Wie der Autor des Beitrags in der „New York Times" am Ende bemerkte, handelt es sich hier um den „ersten elektronischen" Selbstmord in der Menschheitsgeschichte.

„Networks" haben in den letzten Jahren die amerikanische Informationsgesellschaft gründlich revolutioniert. Das neue Zauberwort heißt „CompuServe" („Business Week"). Dieses technische Wunderwerk erlaubt es jedem, bequem vom häuslichen Schreibtisch aus am Nachrichtenstrom des Weltgeschehens teilzunehmen wie es die Phantasie eines Aldous Huxley oder Jorge Luis Borge noch nicht auszumalen vermochte.

Zur Grundausrüstung gehört nur ein einfacher Personal Computer mit Modemanschluß, eine Vorrichtung, die mittels Umwandlung elektronischer Impulse den Datenaustausch übers öffentliche Telephonnetz erlaubt. Die verhältnismäßig niedrigen Gebühren zwischen sechs und 21 Dollar pro Stunde schlagen sich im Monatsbudget einer durchschnittlichen US-Familie in einem erträglichen Rahmen zu Buche.

Um „Compuserve"-Teilnehmer zu werden, braucht man kein ausgesprochener Computer-Freak zu sein. Innerhalb einer Stunde fließt nach Installierung des Modems und der nötigen Software, ähnlich wie bei unserem Teletextsystem, ein unendlicher Informationsstrom von Nachrichten über den Bildschirm.

Die rund 600.000 Mitglieder des „CompuServe" lassen sich mit den Lesern einer großen Tageszeitung vergleichen. Jeder Teilnehmer hat Zugriff auf dieselben Informationsquellen wie die amerikanischen Nachrichtenagenturen (Associated Press, United Press, Reuters) und die 46 großen Tageszeitungen. So erfährt man in Sekundenschnelle vom jüngsten Staatsstreich in einem afrikanischen Land, dem Sturz einer Regierung in Ostasien, einem Erdbeben in Lateinamerika ebenso wie die jüngsten Finanzdaten an der Wallstreet oder der internationalen Wirtschaftsentwicklung.

Die wirkliche Revolution der Inf orma-tionswelt durch „CompuServe" wurde durch zwei Tatsachen möglich: Erstens durch die Entstehung von großen „Networks", die - teils durch Fusionen oder durch Aufkauf kleinerer Nachrichtenagenturen - zu mächtigen Informations-Konzernen heranwuchsen, die mit einem unüberschaubaren Informationsangebot aufwarten.

Der zweite Faktor liegt auf technischer Ebene. Die gigantische Informationsflut, die 24 Stunden ununterbrochen über die Bildschirme läuft, würde die Auf nahme-kapazität jedes einzelnen bei weitem überfordern und wäre daher sinnlos. Als Lösung erfand man den speziellen „Informationsschlüssel" („Business Week"), der aus der Flut von Nachrichten genau jene herausfiltert, die man wirklich braucht. Per Knopfdruck sortiert der Computer die programmierten Interessengebiete. Seien es die jüngsten Entwicklungen in der Golf kri-se, die Lage auf den Benzinmärkten, Ergebnisse aus der Sportwelt,Kultur oder wissenschaftli- idsi-29ogesco che Nachrichten - oder auch ganz persönliche Informationen.

Dank eines spezialisierten Informationsempfangs kann nun eine „ elektronische Interessengemeinschaft" unter einzelnen Teilnehmern entstehen. Mit Vorliebe zu nächtlicher Stunden gehen sie, ähnlich wie bei Brieffreundschaften, auf elektronische Partnersuche im weitverstreuten Mitgliedernetz von „CompuServe". Via Bildschirm kann man so die Hobbies, persönliche Daten, Vorlieben und Interessen völlig unbekannter Teilnehmer abfragen, die man nie zuvor im Leben gesehen hat. Immer mehr Ehen und Freundschaften sind laut „New York Times" durch diese „elektronische Kontaktaufnahme" schon entstanden.

3 5 große Computerzentren in Co-lumbus im Bundesstaat Ohio sowie zweitausend kleine Netzprozessoren über den gesamten nordamerikanischen Kontinent, Japan und Westeuropa verstreut, machen diesen weltweiten elektronischen Informationsaustausch möglich. Unbestritten bleibt dabei, daß mit dem Einzug der computerisierten Nachrichtenübermittlung das Alltagsleben von Millionen US-Bürgern revolutioniert wurde.

Die totale Informationsgesellschaft hat bereits Gestalt angenommen. Jeder Computerteilnehmer hat praktisch Zugriff auf jede Information, und das immer schneller und bequemer. Die Abfrage wird alltäglich wie der Griff zum Telephonhörer.

Amerikanische Soziologen sprechen aber bereits von einem neuen Phänomen in der computerisierten Informationsgesellschaft. Wer immer mehr Zeit vor seinem Computer verbringt, verliert immer mehr den Kontakt zur „wirklichen" Welt. Zunehmende Einsamkeit und Isolation unter Computer-Freaks machen sich als neue Gesellschaf ts-pröbleme bemerkbar.

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