Gefangen im Netz

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Die exzessive Nutzung neuer Medien birgt die Gefahr, in der virtuellen Welt zu versinken: Wie das Internet zum Suchtmittel werden kann.

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Die exzessive Nutzung neuer Medien birgt die Gefahr, in der virtuellen Welt zu versinken: Wie das Internet zum Suchtmittel werden kann.

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Um visionäre Denker zu beurteilen, bedarf es oft nur weniger Jahrzehnte. Der amerikanische Freigeist Terence McKenna etwa machte sich relativ früh tiefsinnige Gedanken über das Internet: "Das World Wide Web wird Grenzen auflösen, indem es uns selbst transparent macht. Denn kulturell ist ein groß angelegter Versuch im Gang, unser Inneres nach außen zu kehren." Das war 1995. Im selben Jahr beschrieb der New Yorker Psychiater Ivan Goldberg scherzhaft das Phänomen der "Internet-Sucht". Doch der Scherz wurde schon bald zum Selbstläufer, als sich zahlreiche Betroffene meldeten, die ihre Symptome erstmals aufgelistet fanden. Beide Diagnosen, die kulturelle und die medizinische, haben sich aus heutiger Sicht als gültig erwiesen.

Reizsteigerung per Mausklick

Der Siegeszug des Internet hat nicht nur Grenzen niedergerissen, sondern auch eine Vielzahl neuer Reize mit sich gebracht. Shopping und Entertainment, Selbstdarstellung und Rollenspiele bis hin zu Sex und Partnerbörse: All das ist in den virtuellen Welten nur einen Mausklick entfernt. Und eine Reizsteigerung ist jederzeit möglich: Beim Surfen, Spielen, Posten und Mailen geht es immer noch einen Dreh weiter - noch ein Link, noch ein Mail, noch ein kleines Spiel, wie die Wiener Psychologin Birgit Oitzinger berichtet: "Mit der steigenden Beliebtheit der neuen Medien hat in den letzten Jahren auch die Zahl der Betroffenen zugenommen, die aufgrund exzessiver Mediennutzung in der virtuellen Welt zu versinken drohen". Und dadurch in der realen Welt handfeste Probleme bekommen.

Bei einer problematischen Entwicklung rückt der Computer immer mehr ins Zentrum des Interesses; Freizeitaktivitäten, schulische oder berufliche Pflichten werden vernachlässigt. Wie das konkret aussehen kann, zeigen Fallbeschreibungen aus österreichischen Behandlungszentren: "Der Patient kommt von der Schule nach Hause (wenn er sie besucht hat), setzt sich vor den PC und beginnt zu spielen, bis er in der Nacht vor dem PC einschläft, was das morgendliche Erwachen bzw. den Schulbesuch erschwert." Jugendliche zählen zu den Risikogruppen der Internetabhängigkeit. Hier ist es oft der Leidensdruck der Eltern, der zu einer Kontaktaufnahme mit professionellen Helfern führt: "Ich vermute, dass mein Sohn seit circa einem halben Jahr Internet-süchtig ist. Er geht nicht mehr rechtzeitig ins Bett, steht in der Früh nicht auf, isst wenig, duscht nur selten und lernt gar nicht mehr für die Schule (...). Ich habe ihm gestern ab 22 Uhr das Smartphone weggenommen, weil ich ihn immer wieder mit dem Telefon am Ohr im Bett liegen und schlafen sehe, und sagte ihm, dass er es in der Früh wieder bekommt. Er hat sich mit Händen und Füßen dagegen gewehrt. Der PC läuft immer und er ist dauernd in seinem Zimmer."

Exzessiver Pornokonsum

Seit den 1990er-Jahren ist die "Internet-Sucht" Gegenstand der Forschung; die diagnostische Zuordnung wird aber auch heute noch heftig diskutiert. Handelt es sich tatsächlich um eine eigene Suchtkrankheit oder um eine Impulskontrollstörung? Oder verbergen sich dahinter eine Beziehungsstörung, ein Zwangs- oder ein Begleitsymptom der Depression? Und welche Erscheinungsformen gibt es? "Beratungsstellen und Kliniken werden noch überwiegend von Online-Spielern aufgesucht", bemerkt der systemische Therapeut Detlef Scholz in einem neuen Fachbuch. "Studien weisen jedoch immer wieder darauf hin, dass auch der exzessive Pornokonsum und die exzessive Online-Kommunikation Massenphänomene sind, die zum Teil Suchtcharakter entfalten." Aber auch die "Informationssammelsucht" wird von Scholz beschrieben. Die WHO wird voraussichtlich in ihrem künftigen Diagnoseschema ICD-11 (2015) die Computer-Spielsucht unter den Verhaltenssüchten klassifizieren. Manche Expertenhingegen äußern Bedenken, dass sich unter dem Label der "Verhaltenssucht" viele gesellschaftlich unliebsame Verhaltensweisen als krankhaft abstempeln lassen.

Die Entwicklung eines problematischen Internet-Gebrauchs verläuft schleichend. "Oft wird die reale Welt von den Betroffenen als belastend und unbefriedigend erlebt", erläutert Psychologin Oitzinger. "Die virtuellen Welten bieten dann die Möglichkeit, ein emotionales Coping zu erreichen beziehungsweise Erfolgserlebnisse, die in der realen Welt kaum vorhanden sind." Wie zum Beispiel folgendes Behandlungsprotokoll verdeutlicht: "Die Patientin konnte durch das Online-Rollenspiel mehrere Bedürfnisse befriedigen, wie soziale Kontakte pflegen, ein gewisses Maß an Macht innehaben, was aufgrund ihrer Persönlichkeit selbstwertsteigernde Funktion hat und auch eine Möglichkeit bietet, ihre aggressiven Impulse auf eine legale Art und Weise auszuleben."

Medienkompetenz in der Internet-Kultur

Die Folge dieser Dynamik ist stets der Rückzug aus der realen Welt, wobei der Alltag zunehmend auf die virtuellen Sphären ausgerichtet wird. "Durch die Möglichkeit der Anonymität und die Überbrückung von Distanz suggeriert das Internet eine psychische Nähe, die ansonsten meist nicht möglich ist", so Oitzinger. Eine problematische Entwicklung wird überdeutlich, wenn zur Einschränkung des persönlichen Lebensbereichs durch Internet-Angebote andere Merkmale einer Abhängigkeit hinzu kommen - etwa Kontrollverlust bezüglich der Dauer vor dem Bildschirm, starkes Verlangen nach dem Internet ähnlich wie nach einer Droge, oder auch Entzugssymptome bei verhinderter Computer-Nutzung, wie eine Fallbeschreibung zeigt: "Signifikant und für die Patientin durchaus überraschend war die Tatsache, dass die Löschung ihres Accounts zu einer massiven Trauerreaktion führte. Dies zeigte sich in einer depressiven Symptomatik, die aber in der Therapie gut bearbeitet werden konnte."

Alkoholabhängige haben auch aufgrund unserer Alkohol-bezogenen Kultur oft Schwierigkeiten, abstinent zu bleiben. Von Internet-Abhängigen Abstinenz zu verlangen, ist in unserer vernetzten Gesellschaft fast unmöglich und gilt auch nicht als erstrebenswert. Die Behandlung dieser Störungsbilder zielt daher auf Medienkompetenz - die Fähigkeit, kontrolliert mit dem Internet umzugehen. "Grundlage dafür ist die Entdeckung der eigenen Fähigkeiten und Ressourcen, um diese als Basis für ein freudvolles, suchtfreies Leben umsetzen zu können", betont Oitzinger.

Systemische Interventionen bei Internetabhängigkeit

Von Detlef Scholz. Carl Auer Verlag, 2014. 239 Seiten, kt., € 24,95

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