"Hallo Mausi, hier ist wieder Superman"

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Weltweit wächst die Zahl der Benutzer des Internets rasant. Gleichzeitig werden aber auch diejenigen immer mehr, die davon nicht mehr loskommen. Die "Webaholics", die Internetsüchtigen, brauchen den täglichen "Kick im Web".

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Weltweit wächst die Zahl der Benutzer des Internets rasant. Gleichzeitig werden aber auch diejenigen immer mehr, die davon nicht mehr loskommen. Die "Webaholics", die Internetsüchtigen, brauchen den täglichen "Kick im Web".

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Internet-Sucht" heißt das Schlagwort, das - zunächst von den Medien verbreitet - allmählich auch in der Medizin Aufmerksamkeit findet. Die Probleme der "Webaholics" treten in verschiedenen Formen auf: als Sucht nach Pornosites, nach Online-Shopping, nach Gewinnspielen oder Computerspielen.

"Es ist, als hättest du ein zweites Ich", berichtet eine Betroffene. "Das eine Ich, das sich in wildester Manie mit unsichtbaren Wesen am Rechner unterhält, ihnen Dinge anvertraut, von denen du vorher selbst nichts wußtest. In dir erwacht eine Erotik und eine Sehnsucht, der du dir vor deiner Onlinesucht niemals bewußt warst. Deine Träume werden lebendig, nehmen Gestalt an, und du findest in deinem Gegenüber das Wunschbild deines Lebens. Du stürzt dich hinein in ein Abenteuer. Du riskierst alles. Das andere Ich, das dich in den kurzen Momenten, in denen du dich wieder in der Realität befindest fragt: Was tust du da? steht dem neuen Ich hintan. Du denkst, du bist doch gestern noch ganz normal gewesen, weißt jedoch im gleichen Augenblick, daß du es immer noch bist, daß du aber nicht auf deine neue Welt verzichten willst und kannst."

Die eigene Maßlosigkeit ist das Hauptproblem der Internet-Junkies. Auf der Homepage des deutschen Vereins "Hilfe zur Selbsthilfe für Online-Süchtige", kurz HSO genannt, erzählen sie über ihre Sucht - als eine Art Selbsttherapie: "Ich bin verzweifelt! Morgens um acht Uhr Computer an, Mails runterladen, ... abends erst gegen 23 Uhr aus", schreibt beispielsweise Björn. Auch Olaf lebt fast nur noch in der vituellen Welt. Einladungen von Freunden, mit ins Gasthaus zu kommen, lehnt er ab, um online bleiben zu können. "Als Süchtiger bist Du erfinderisch. Du spinnst mit Leichtigkeit um dich ein Netz von Lügen, warum du keine Zeit mehr für andere Hobbies oder Freunde hast."

Das sind Beispiele aus Deutschland. Doch das World Wide Web kennt keine Grenzen. Nach einer vom Institut für Biostatistik der Universität Innsbruck durchgeführten Internet-Umfrage stuften sich 40 Prozent der Befragten selbst als "süchtig" ein. So arg war es dann doch nicht. Ein suchtartiges Verhalten orteten die Forscher "nur" bei jedem achten. Ein Fünftel gab an, beim Chatten einen "rauschähnlichen" Zustand zu erleben. Chat-Rooms sind Plattformen im Internet, wo man sich online mit Hilfe des Computers unterhalten kann, schriftlich und anonym. Einloggen (einsteigen) kann man zum "Tratsch im Web" unter einem Pseudonym, zum Beispiel "Kleopatra", "Mausi" oder "Superman".

Rückzug aus der Welt Den "Kick im Web" erklärt der Psychiater, Neurologe und Psychotherapeut, Primarius Hans Zimmerl, Leiter der Ambulanz im Anton Proksch Institut Wien, so: " Bei intensiven Spielern sind bereits Veränderungen im Bereich der Neurotransmitter nachgewiesen. Bei exzessivem Internetgebrauch über viele Stunden spielen wahscheinlich ähnliche Faktoren eine Rolle - vielleicht auch eine Endorphinausschüttung." Und wie die sogenannte "Spielsucht" korrekterweise im Fachjargon "Pathologisches Spielen" heißt, spricht Zimmerl von "Pathologischem Internet Gebrauch (PIG). Damit werde die Abgrenzung zu "stoffgebundenen" Süchten, etwa Alkoholismus, und "nicht-stoffgebundenen Süchten" unterstrichen.

Onlinesüchtige verändern sich merklich. Nach und nach ziehen sie sich immer mehr vom realen Leben zurück. Einladungen werden nicht mehr wahrgenommen.

Auch das Familienleben verliert an Bedeutung. Wichtig ist nur noch die Cyber-Welt. Sich von ihr zu lösen ist völlig unmöglich. Der Onlinesüchtige kapselt sich schließlich von "realen" Freunden und Kollegen ab. Und da sein Umfeld ihm und seinen Erzählungen aus der virtuellen Welt nicht mehr folgen kann oder will, findet er seine verständnisvolle Gemeinschaft, seinen neuen Freundeskreis, im Internet.

Gibt es hin und wieder doch noch reale Gespräche mit Freunden oder Kollegen, wird der Onlinesüchtige immer wieder auf Themen kommen, die mit dem Internet, seinen Internet-Freunden und neuen Websites zu tun haben.

Typische Symptome Was tun, wenn man selbst den Eindruck hat, seinen Internetgebrauch nicht mehr im Griff zu haben? Zunächst sei zur Beruhigung gesagt, daß sich gerade beim Einstieg in die Onlinewelt häufig Symptome einer Onlinesucht zeigen: Da wird euphorisch jede Nacht durchs WWW (World Wide Web) gesurft, entferntesten Bekannten eine E-Mail geschickt und jede neue Webadresse sofort aufgesucht. In den meisten Fällen erlischt diese Faszination nach ein paar Wochen. Man weiß nun, welche Informationen man im Netz findet, wann man besser in die Bibliothek geht oder einen Kollegen fragt. Die Online-Zeiten pendeln sich wieder auf ein Normalmaß ein.

Der "normale" User verbringt maximal fünf Stunden pro Woche im Netz. Frauen haben eine Vorliebe für Chatrooms und Kontakt-Web-Seiten. Männer sind dagegen eher an Videospielen und Porno-Web-Seiten interessiert, fand die US-Psychologin Kimberly S. Young heraus. Sie beschäftigt sich seit Jahren mit dem Phänomen Internetsucht. Gleichzeitig bietet sie Internetabhängigen Hilfe im Netz an. Doch ihre "virtual clinic" ist nur für Surfer interessant, die Englisch gut beherrschen und zudem gut bei Kassa sind: Eine E-Mail-Antwort kostet rund 200 Schilling.

Natürlich gibt es Kritiker solcher therapeutischen Maßnahmen. "Eine Kontaktnahme übers Internet bietet sich zwar an - eine Therapie auf diesem Weg halte ich für unseriös", sagt Primar Hans Zimmerl. Nicht das Internet an sich mache süchtig, es liege bei jedem einzelnen Menschen, das Medium sinnvoll zu nützen, oder aber eigene Defizite damit zu kompensieren und damit in eine Abhängigkeit zu geraten.

Der Wiener Psychiater vermutet, daß Menschen mit vorbestehenden anderen Suchterkrankungen, Menschen mit einer unreifen Ich-Struktur, depressive Personen, aber auch Personen mit narzißstischen Persönlichkeitsstörungen leichter dem Internet verfallen. Darüber hinaus müsse auch das jeweilige Milieu berücksichtigt werden. "Eine arbeitslose, vom Partner verlassene Person, wird eher anfälliger sein, als ein Mensch, der in einem intakten sozialen Umfeld lebt", erklärt Zimmerl.

Unreife Ich-Struktur Internetsucht, Pathologischer Internet Gebrauch( PIG), pathological Internet use (PIU), Net Addiction, Online Addiction, Internet Addiction Disorder (IAD), unter all diesen Namen diskutieren Psychologen weltweit das Phänomen der Internet-Abhängigkeit. Handelt es sich dabei um eine "neumodische" Krankheit? In den USA gibt es massive Bestrebungen, Internetsucht als Krankheit anzuerkennen, doch "es wird noch sehr viel Forschungsarbeit zu leisten sein", ist Zimmerl überzeugt.

Wer unter seinem Onlineverhalten leidet oder seine Umgebung in Mitleidenschaft zieht, braucht natürlich Hilfe. Generell sollte man sich allerdings hüten, kulturellen Vorurteilen über neue Medien aufzusitzen. Dem Internet gehört die Zukunft, ist auch Zimmerl überzeugt. Alles in allem sei es positiv zu bewerten. Euphorische Überbewertung sei jedoch ebenso falsch wie die hysterisierende Überinterpretation des Umstandes, daß manche Menschen sich in der Scheinwelt verstricken könnten. Angehörige sollten daher keinesfalls den Fehler machen, dem Vielsurfer mit verständnisloser, moralisierender Ausgrenzung zu begegnen, sondern Interesse zeigen, sich das Ganze erklären lassen und damit der Verstrickung des Internet-Benutzers entgegenwirken, rät der Psychotherapeut.

INFORMATION Erste Anzeichen für Onlinesucht * In der Partnerschaft beginnt es zu kriseln, weil es ständig Krach wegen des Computers gibt.

* Freunde beschweren sich, weil ständig die Telefonleitung besetzt ist.

* Telefon- und Internetkosten erreichen schwindelnde Höhen.

* Schulden wachsen - Mahnbescheide flattern ins Haus.

* Interesse an Offline-Geselligkeiten läßt merklich nach.

* Besuch ist eher lästig geworden, weil man doch viel lieber am Computer sitzen würde.

* Elan und Engagement im Betrieb lassen merklich nach.

* Der mangelnde Schlaf macht zu schaffen.

* Eingekauft wird am liebsten online.

* Die Kondition läßt merklich nach, da die Bewegung an der frischen Luft fehlt.

* Das Gefühl kommt auf, in der Familie nicht mehr voll integriert zu sein.

* Das Gefühl, von Freunden, Kollegen, und der Familie nicht mehr verstanden zu werden, bestätigt sich täglich.

* Abkapselung vom "alten Leben".

Quelle: "Hilfe zur Selbsthilfe für Online-Süchtige e.V." http://www.internetsucht.de ) TIPS UND INFOS Weitere Adressen im WWW: Ambulanz für Internetabhängige: http://www.med.uni-muenchen.de/psywifo/Interaddict.htm Fragebogen: Bin ich internetsüchtig? http://www.wis.uni-bremen.de/wis/spd/suchtp/

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