VIRTUELLE Kinder-Räume

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Smartphones und Tablets, Apps, soziale Netzwerke und Computerspiele: All das gehört heute für die meisten Kinder und Jugendlichen zum Alltag -auch und gerade in den Ferien. Das kommt bei Erwachsenen nicht immer gut an. Vielmehr wird gefordert, dass Kinder mehr reale Erfahrungen machen sollten, am besten draußen im Freien, mit Freunden. Aber lassen sich reale und mediale Erfahrungen gegeneinander ausspielen? Oder kommt es nicht auf die Qualität der jeweiligen Erfahrungen an?

Ob die virtuellen Welten -insbesondere soziale Netzwerke und Computerspiele - für die Entwicklung der Kinder schädlich sind, wird in der Fachöffentlichkeit kontrovers diskutiert. Diese Frage lässt sich auch nicht leicht beantworten: Zum einen, weil die Medienentwicklungen so schnell ablaufen, dass jegliche Forschungen den Veränderungsprozessen hinterherhinken; zum anderen, weil dazu eigentlich Längsschnittstudien notwendig wären, die sehr aufwändig sind.

Flucht der Jungen aus "Facebook"

Trotzdem lassen sich einige Daten zusammenstellen, die etwas über die medialen Nutzungsgewohnheiten von Kindern und Jugendlichen sowie mögliche Effekte auf deren Persönlichkeitsentwicklung aussagen. Wir wissen zum Beispiel, dass Jugendliche etwa ab dem Alter von 14 Jahren sehr gut mit mobilen digitalen Medien ausgestattet sind und überwiegend zur Kommunikation aktuelle soziale Netzwerke nutzen. Dabei wird am Beispiel von Facebook deutlich, dass sie sich rasch Alternativen suchen, wenn zu viele Erwachsene präsent sind. Facebook verliert in fast allen westlichen Industrieländern stark eine Mitgliedschaft im Jugendalter und wird vermehrt eine Plattform für ältere Erwachsene. Jugendliche wollen wie im Alltag in ihren sozialen Räumen gerne unter sich bleiben. Auch spielen bei Kindern und Jugendlichen Netzwerke wie Instagram und Snapchat eine größere Rolle, die auch Visualisierungen in Form von Fotos und Videos zulassen, während für die schnelle Kommunikation WhatsApp dient.

Nichtsdestotrotz haben physische Räume in der Kindheit und im Jugendalter noch ein große Bedeutung: Die Jüngeren wollen sich mit Freunden treffen und draußen spielen, die Älteren treffen sich zum Sport oder anderen Freizeitaktivitäten oder fahren in die Disco. Die virtuellen Räume der sozialen Netzwerke erweitern diese physischen Räume und bieten weitere, andere und zum Teil auch neuere Formen der sozialen Interaktionen. Kommunikation und Interaktion waren schon immer Hauptmerkmale des Jugendalters: sich über Erfahrungen und Meinungen austauschen, sich wechselseitig an Trends orientieren, die Gemeinsamkeit einer Szene pflegen.

Selbstdarstellung ist ein weiteres Merkmal des Jugendalters -und eines der wesentlichen Momente, welche die Digitalisierung in unserer Gesellschaft mit sich bringt. Dies hat der Kultursoziologe Andreas Reckwitz in seinem aktuellen Buch "Die Gesellschaft der Singularitäten" sehr gut aufgezeigt. In Gesellschaften, in denen die digitalen Medien eine große Rolle spielen, entwickeln sich demnach weniger individuelle Eigenheiten der einzelnen Menschen, sondern eher Verhaltensweisen, die nach Anerkennung, Bedeutung und Einzigartigkeit verlangen. Jene sind etwas Besonderes, die viele Follower und/oder viele Likes haben. Erlangt man dies, dann hat man -so Reckwitz -eine gewisse Singularität erreicht. Man kann aber ent-singularisiert werden, wenn jene, die einem besondere Bedeutung zuschreiben, einen nicht mehr mögen.

Identität und Vorbildwirkung

Gerade bei Jugendlichen spielt im Rahmen der Identitätsfindung die Orientierung entweder an der Gleichaltrigengruppe oder an sogenannten Berühmtheiten eine große Rolle. Man möchte genauso sein wie diese oder nimmt sie als Vorbild. Die virtuellen Räume der sozialen Netzwerke stellen den Jugendlichen entsprechende Räume zur Verfügung, in denen sie sich entweder selbst präsentieren und "singularisieren" oder andere entsprechende Bedeutung durch Likes oder Following zuschreiben können.

Und wie sieht das Ganze bei Kindern aus? Viele von den Jüngeren, die etwa unter acht bis zehn Jahren sind, dürften selbst noch keine eigenen digitalen Medien besitzen. Aber in ihrer Familie stehen sie zur Verfügung. Ältere Geschwister oder die Eltern haben Smartphones, Tablets oder Computerspiele. Entweder hilft den Jüngeren Betteln; oder sie dürfen digitale Medien als Belohnung nutzen; oder die älteren Geschwister zeigen ihnen, was man damit alles machen kann. Damit können sie natürlich auch in ihrer Gleichaltrigengruppe oder bei Freunden mitreden. Dies zeigt, dass sich physische Räume (hier die Familienwohnung) mit virtuellen Räumen überschneiden bzw. fließend ineinander übergehen.

Die sozialen Netzwerke haben aber für Kinder und Jugendliche auch problematische Seiten. Die meisten sind den Eltern bekannt und sie ermahnen ihre Kinder, persönliche Daten nicht preiszugeben und sich nicht mit Unbekannten zu verabreden. Aber daneben existieren noch andere herausfordernde Bereiche, etwa die Kommerzialisierung sozialer Netzwerke, besonders häufig anzutreffen bei YouTube und Instagram. Die vermeintlichen Vorbilder in diesen virtuellen Räumen verbreiten neben ihren Alltagsgeschichten häufig auch Werbung für kommerzielle Produkte, die schwierig als solche erkennbar ist. Es handelt sich um jene Stars bzw. Singularitäten, die eine hohe Anzahl von Followern haben und für ihre Postings sehr viele Likes bekommen. Jugendlichen fällt es meist schwer, die Werbung zu erkennen bzw. zu durchschauen, auch wenn häufig unter dem Namen der Stars die kommerzielle Verbindung genannt wird oder das Posting mit dem Hashtag #ad oder #werbung versehen ist.

Wie sollten nun Eltern und Erwachsene mit diesen Phänomenen umgehen? Zwei Dinge wären bei der Medienerziehung der Kinder berücksichtigen: Zum einen sollte man sehen, dass der angemessene Umgang mit den jeweils neuen Medien -diesfalls etwa mit sozialen Netzwerken -Zeit braucht. Erinnern wir uns: Die allgemeine Verbreitung mobiler Geräte mit ihrem allgegenwärtigen Zugang zum Internet liegt erst rund zehn Jahre zurück! Der Soziologe Dirk Baecker hat es in seinen "Studien zur nächsten Gesellschaft" treffend als zentrale Herausforderung beschrieben, die vielfältigen Nutzungsmöglichkeiten der jeweiligen neuen Medien in einen sinnvollen Gebrauch zu transformieren. Dies müssen Gesellschaften erst "lernen" - und sicher ist digitale Bildung dabei ein wichtiges Unterstützungs-und Sinngebungssystem.

Offenheit zum Dialog

Zum anderen sollten Eltern an den virtuellen Räumen von Kindern und Jugendlichen genau das auch erkennen, was bereits beschrieben worden ist: den Raum der Kommunikation, der Orientierungssuche und der Identitätsfindung. Dass es dabei Probleme und Schwierigkeiten gibt, ist klar und sollte nicht verkannt werden. Den richtigen Umgang dazu zu finden, kann freilich nur im Gespräch geleistet werden, selten mit Verboten oder Missbilligungen. Diese Gespräche sowie die Offenheit zum Dialog vonseiten der Eltern, aber auch der Kinder müssen früh gepflegt werden, damit dies später auch gelingt. Nicht zuletzt sollte sich die ältere Generation selbst einmal fragen, ob sie ein gutes Vorbild im Mediengebrauch ist und ob sie den Kindern und Jugendlichen von heute genügend physische Räume zur Selbstgestaltung und Selbstverwirklichung bietet. Da haben die modernen Gesellschaften noch einiges nachzuholen.

| Der Autor war Professor für Erziehungswissenschaft und Medienpädagogik an der Universität Mainz. Diese Woche hat er bei der Pädagogischen Werktagung Salzburg über "Virtuelle Räume" referiert. |

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