Gamer - © iStockphoto

Fasziniert bis süchtig: Vom virtuellen Leben

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Kinder und Jugendliche spielen heute viel und leidenschaftlich - mit Gameboy, X-Box, am Computer. Mit ihren anderen Erfahrungswelten faszinieren die aufwändig gemachten Games - bis hin zur Sucht.

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Kinder und Jugendliche spielen heute viel und leidenschaftlich - mit Gameboy, X-Box, am Computer. Mit ihren anderen Erfahrungswelten faszinieren die aufwändig gemachten Games - bis hin zur Sucht.

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„Wegen eines Streits um eine Spielekonsole hat ein fünfjähriger Bub in Frankreich seine zehnjährige Schwester mit einem Küchenmesser niedergestochen und schwer verletzt." Das konnte man in der dieswöchigen Montagsausgabe einer heimischen Qualitätszeitung lesen. Anscheinend sind es nicht mehr nur pickelige Teenager, die durch Computergames zu unberechenbaren Amokläufern mutieren, mittlerweile stechen schon kleine Kinder wild um sich. Und man möchte hinzufügen: Zum Glück wissen sie noch nicht, wie man ein Maschinengewehr benutzt!

Medien bringen mit ihren Fallgeschichten Videospiele regelmäßig mit Gewalt in Verbindung. Dass eine brutale Tat von einem Nicht-Gamer begangen wurde, wird nie vermeldet. Letztlich verfestigt sich durch diese Art von Berichterstattung vor allem ein Vorurteil: Hitech-Computerspiele als vorerst letzter Tiefpunkt einer nur vorgeblich hochentwickelten westlichen Zivilisation.

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Tatsächlich kommen empirische Studien zu unterschiedlichen Ergebnissen, was einen ursächlichen Zusammenhang von virtuell-blutigen Games und aggressivem Verhalten betrifft. Und zumindest eine neuere Untersuchung wagt sogar den umgekehrten Schluss: Jugendliche können durch Videogames negative Gefühle wie Wut und Stress ausreagieren, ja handhaben lernen - und das im unschädlichen Rahmen eines Spiels.

Herbert Rosenstingl, Leiter der Bundesstelle für die Positivprädikatisierung von Computer- und Konsolenspielen (kurz: BuPP) meint: "Einfache Kausalitäten gibt es offenbar nicht. Allerdings wird auch kaum jemand leugnen, dass es gewisse Problemkonstellationen gibt. Zum Beispiel, wenn Kinder, die ein Problem mit Aggression haben, zusätzlich Gewaltspiele spielen. Die Experten sprechen von High Risk Playern." Die Mehrheit der Gamer fällt freilich nicht in diese Kategorie.

Dennoch dreht sich die öffentliche Diskussion weiterhin vor allem um diese eine verderbliche Wirkung - wobei die lautesten Wortspenden oft von Nichtspielern kommen. Die Spieler selbst halten ein anderes Problem für wichtiger: Das Suchtpotenzial ihrer virtuellen Spiele ist sehr real. Konkret gaben in einer österreichischen Umfrage von 2006 rund 6 von 10 Jugendlichen an, dass sie glauben, dass Computer- und Konsolenspiele süchtig machen.

Dr. Hubert Poppe vom Anton Proksch Institut in Wien bestätigt diese subjektive Einschätzung: "Die Zahl jener, die in meiner Ambulanz Hilfe suchen, steigt jährlich um 10 bis 20 Prozent." Ob dieser Trend mit der wachsenden Bekanntheit des Angebots oder der größeren Problematik zu tun hat, will der Computersucht-Experte allerdings offen lassen. Ganz allgemein sollen heute etwa drei Prozent der Bevölkerung an Computersucht leiden, wobei zunehmend auch Erwachsene betroffen seien.

Die öffentliche Diskussion dreht sich vor allem um die Gewalt verherrlichende Wirkung von Spielen. Die Spieler sehen ein anderes Problem: das Suchtpotenzial.

Genau genommen wird mit den drei Prozent auch nicht die Krankheit "Computersucht" erfasst - denn, so Poppe: "Das ist keine offizielle Diagnose" - sondern eine bestimmte Gruppe täglicher User. Und die Tatsache, dass Computersüchtige im Schnitt 32,5 Stunden pro Woche vor dem Bildschirm verbringen, bietet auch nur einen ungefähren Richtwert. Poppe erklärt: "Zentral ist, dass die Betroffenen erkannt haben, dass sie ein Problem haben und etwas ändern wollen." Dass in seiner Ambulanz vergleichsweise viele Jugendliche landen, hat damit zu tun, dass die Eltern sich relativ früh um ihre Zöglinge Sorgen machen.

Sehr oft korreliert dabei der wachsende Spaß am stundenlangen Spielen mit sinkenden schulischen Leistungen. Vielfach ist das Problem aber auch komplexer. Poppe schildert folgenden Fall: Die Mutter meint, ihr 14-jähriger Sohn verbringt zu viel Zeit mit Computerspielen. Gleichzeitig sind die Noten noch gut. Die Gleichaltrigen hängen im Skater-Park herum, trinken Bier und rauchen Zigaretten. Kommentar des Experten: "Diese Freunde sind den Eltern auch nicht recht. Wo soll der Bursche jetzt hingehen? Was für Optionen hat er noch?"

Suche nach positiven Erfahrungen

Andere Optionen zu finden und positive Erfahrungen zu sammeln, das ist ein zentrales Ziel der Therapie. Dabei muss der computerfreie Tag genau geplant werden. Poppe erklärt: "Nach einer Stunde ohne Computer wüssten die Betreffenden sonst nicht mehr, was sie mit sich anfangen sollten. Sie haben ja oft seit Monaten nichts anderes mehr gemacht als Computerspielen." Eine zweite wichtige Erfahrung ist, dass die Jugendlichen merken, dass ihnen durch das vorübergehende Offline-Sein ihre Online-Freunde nicht verloren gehen. Denn spielen ist häufig keine isolierte Tätigkeit mehr.

Das Internet bietet einen Treffpunkt, bei dem reale Wohndistanzen zwischen den Jugendlichen virtuell überwunden sind. Poppe plädiert auch für mehr Verständnis seitens der Eltern für die neue Lebensform: "Oft heißt es einfach: Ab 21 Uhr ist Schluss. Mein Vergleich dazu ist: Wenn man mit Freunden zu einem Fußballspiel verabredet ist, kann man auch nicht mitten in der zweiten Halbzeit heimgehen. Das passt nicht."

Schließlich wünscht sich der Experte einen gelasseneren Umgang mit dem Thema: "Das Jugendalter ist eine Zeit des Herumprobierens, ja des Exzesses. Das viele Computerspielen ist oft nur eine Phase, aus der die Teenager irgendwann wieder herauswachsen."

Fakt

"Computerspiele im Alltag Jugendlicher", 2008

86,5 % der 11- bis 18-jährigen Burschen nutzen heute Computer- oder Konsolenspiele; bei den Mädchen sind es 63 Prozent. Rund jeder zweite Bursche spielt dabei „fast täglich“ oder „mehrmals pro Woche“; bei den Mädchen ist es jedes fünfte.

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