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Digital In Arbeit

Chiffrieiflare Ästhetik

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Im Künstler wie im Kunstfreund, soweit beide dafür halten, daß der schöpferische Schaffensvorgang in letztlich unergründlichen Ursprüngen wurzelt, regt sich Unbehagen, sobald sich die Wissenschaft der Kunst in analytischer Absicht mit mathematischen Methoden nähert, zumal heute, da sich diese im Zeitalter der Kybernetik potenziert anbieten. Doch der Trend ist unaufhaltbar, im Bereich der Literatur sind längst umfangreiche Forschungen im Gang, und es zeichnet sich eine Situation ab, in der Dichtung, bildender Kunst und Musik mit Hilfe von Computersystemen zahlreiche Strukturgeheimnisse entrissen werden sollen. In einer ganzen Reihe von Instituten, vornehmlich im angelsächsischen, deutschen und slawischen Raum werden Elektronenrechner bereits mit Millionen von Daten, zunächst aus dem Bereich der Literatur, gefüttert, und es liegen erste Ergebnisse vor, die aufhorchen lassen.

Für den musischen Menschen jenes Typs, für den seelische Evokation und rationale Perfektion Antagonismen bedeuten, wird es nicht leicht sein, der Aggression des in geheiligte Bezirke einbrechenden Apparats kaltblütig entgegenzuschauen. Doch bevor wir auf die absurden, amüsanten oder schaurigen Aspekte ein- gehen, halten wir uns vor Augen, daß aller Automatisierung letztlich Hilfscharakter im Sinn der Arbeitserleichterung für den Menschen zukommt. Ein Mechanismus, der sich entsprechend der Definition der Automatisierung verhalten soll, muß drei Aufgaben beherrschen: 1. Die Wahrnehmung durch Informationsempfang, 2. die Informationsverarbeitung und die Aktionsentscheidung und 3. die Aktionsauslösung. Denselben Aufgaben und Gesetzen sind in diesem Hinblick die biologischen Organismen unterworfen. Ihre in Physik und Biologie gemeinsamen Grundprinzipien beschreibt und erforscht die Kybernetik.

Sie liefert nicht mehr, aber auch nicht weniger, als die Basis für die Konstruktion von Apparaten, die die entsprechenden biologischen Vorgänge von der Perzeption durch die Sinnesorgane über die Informationsverarbeitung und den Entscheid durch das Zentralnervensystem bis zur Aktionsauslösung durch die Muskeln imitieren. Das Schwergewicht liegt auf der Imitation. Ob wir ein primitives Schöpfrad vor uns haben, das den Vorgang des Wasserschöpfens mittels der menschlichen Hand nachahmt, oder einen elektronischen Datenverarbeiter, kommt im Prinzip auf das gleiche hinaus. Ein Grund zu magisch-archaischen Ängsten besteht so lange nicht, als sich der Mensch bewußt bleibt, daß es allein von ihm abhängt, wie er sein Werkzeug benützt.

Eine Forcierung etwa der Exaktheit der Literaturwissenschaft schwebt der Forschung längst als erstrebenswertes Ideal vor. Nun ist es die Elektronik, die endlich ein Instrumentarium liefert, das einerseits absolute Exaktheit verspricht, und zum andern ermöglicht, zu analytischen Zwecken unerhörte Materialmassen zu programmieren. Vor ihrer Entwicklung blieben sämtliche Totalität anstrebende mathematische Systematisierungstendenzen in Ansätzen stechen. Aus banaler Ursache, da die Exzerption der Daten zu mühsam war und die Lebenszeit ganzer Forscherteams durch leidige Rechen- exempel und Notationen auf unwürdige Weise verbraucht hätte.

Die frühest bekannten größer angelegten Versuche lagen im slawischen Raum, wo Andrej BeJyj in Rußland bereits 1910 das Programm einer systematischen statistischen Untersuchung der Versstruktur formulierte. Verwandte Tendenzen, wenn auch noch ohne tragfähige wissenschaftliche Ausformung, gab es schon früher, wobei Leibniz, E. A. Poe, Novalis, Tieck und Kleist zu nennen sind. Ihnen gegenüber war es Heinrich Heine, der mit scharfen Worten das Mißtrauen all derer formulierte, die das Einsickem von Mathematisierungs- und Formalisierungstendenzen in musische Bereiche bis auf den heutigen Tag ablehnen.

Werktreue Edition als Kostenfrage

Doch die internationale Situation ist dergestalt, daß sich weite literaturwissenschaftliche Kreise der Intensität der Lockung durch die Möglichkeiten der Datenverarbeitung nicht länger verschließen können und dürfen. Dies um so weniger, als dadurch keine der bisher brauchbar gewesenen Forschungsmethoden außer Kraft gesetzt werden soll. Im Gegenteil steht zu erwarten, daß verschiedene Bereiche der Literaturforschung wie auch der Linguistik durch die neuen Arbeiten fruchtbar bereichert werden, wobei sich als Nebeneffekt auch vielfach ein direkter praktischer Nutzen, beispielsweise für die Technifizierung und dadurch Rationalisierung sorgfältiger Editionen, ergibt.

Das oberste editorische Prinzip ist die Werktreue, bei Gesamtausgaben dazu die Erfassung allen erreichbaren Materials. Da aber nur wenige Archive ihr Material übersichtlich genug erschlossen haben, scheitert die Ideallösung oft an den Kosten, ja an der zeitlichen Unmöglichkeit, alle in Frage kommenden Dokumentationen gründlich zu durchstöbern. Also ergibt sich im Sinn sauberer Arbeit die Notwendigkeit, Zentralkarteien der Bestände an Dichtermanuskripten und Autographen anzulegen, die schnell und detailliert Auskunft geben. Da müssen die traditionellen Zettelkarteien durch automatisierte Verfahren ersetzt werden.

Jeder Herausgeber, der sich mit Büchern aus dem 17. bis 19. Jahrhundert befaßt, weiß ein Lied davon zu singen, welche Verwirrung durch Doppel- und Mehrfachdrucke von Texten entstehen, die einander zum Verwechseln ähneln, im einzelnen aber doch beträchtliche Unterschiede aufweisen, die durch Flüchtigkeit beim Nachdruck entstanden sind, oder dadurch, daß in einem anderen Druckhaus andere Korrekturvorschriften galten als in jenem, dem der Dichter sein Manuskript anvertraute. Zum diesbezüglichen Materialvergleich hat Charlton Hinman, ausgehend von einem Verfahren, durch welches im letzten Krieg Luftaufnahmen ausgewertet wurden, eine Kollationsmaschine entwickelt. Mit Hilfe von Linsensystemen und Beleuchtungsmechanismen können die Bilder gleicher Seiten zweier Druckexemplare automatisch kollationiert und Abweichungen signalisiert werden. So konnte Hinman in 18 Monaten mehr als die Hälfte der ersten Folioausgabe von Shakespeares Werken, rund 75.000 große zweispaltige Seiien, kollationieren — eine Arbeit, die bei der bisher üblichen Vergleichung 60 Jahre verschlungen hätte.

Bessere Sachregister durch Automation

Für zahlreiche wissenschaftliche Fragestellungen bildet die Herstellung maschinell auswertbarer Textniederschriften, sei es in Form von Lochstreifen, oder noch besser, von Magnetspeichern, die Voraussetzung. Anläßlich eines internationalen Kolloquiums, das über „Maschinelle Methoden der literarischen Analyse und der Lexikographie” in Tübingen stattfand, wurde demonstriert, wie etwa Goethes „Farbenlehre” mit Hilfe eines „Ramac”-Scheiben- speichers innerhalb von Sekunden nach Einzelwörtern, Wortteilen und Wortverbindungen abgesucht werden konnte. Solche Möglichkeiten sind nicht allein für die vereinfachte Herstellung von Registern, sondern auch für Stilanalysen und Vergleiche von entscheidender Bedeutung. Auch die Frage der Ergänzung von Fragmenten erscheint, sobald der Wortschatz und Stileigentümlichkeiten eines Verfassers in einer bestimmten Periode und unter gewissen weiteren Bedingungen überblickbar werden, leichter und werkgerechter lösbar.

Damit sind wir bereits bei der Stilstatistik. Sie unternimmt es etwa, die durchschnittliche Satzlänge von Texten, deren durchschnittliche Silbenzahl pro Wort, die mittlere Länge der Ketten gleichisilbiger Wörter, die Zahl der Adjektive, Adverbien und Verben u. a. m. festzuhalten. Da jeder Autor seinen eigenen Stil hat, ist es mit Hilfe solchen Materials, sofern genügend Komponenten zur Festlegung des „Echtheitsvolumens” untersucht sind, möglich, fälschlich zuigeschriebene oder annektierte Texte zu erkennen und auszusondern. Doch die numerische Aufzeichnung hat noch einen erweiterungsfähigen Aspekt, jenen, wo Quantität zum Qualitätsmerkmal umschlägt, wo Statistik in Ästhetik sich verwandelt. Dies ist insofern einzusehen, als jedes Kunstwerk das Produkt einer Anordnung ist, die wie jede Ordnung ihre Gesetzlichkeit in sich trägt.

Ein simples Beispiel. Wir lesen einen Text, empfinden steigendes Unbehagen, suchen uns der Ursache bewußt zu werden und stellen fest, daß wir es mit einer adjektivisch überladenen Schrift zu tun haben. Deren Häufigkeit wurde uns also, noch bevor wir uns zur Untersuchung entschlossen, bereits während der unvoreingenommenen Lektüre signalisiert, und zwar als Störfaktor. Schon haben wir damit eine Relation zwischen numerischer Meßbarkeit und ästhetischer Wirkung entdeckt. Derlei Relationen gibt es viele, sie sind chiffrier- und programmierbar, das heißt, sie können mechanisch-physikalisch gespeichert und als automatisierte Regelprinzipien zu analytischen Zwecken verwendet werden.

Hier allerdings beginnt der Boden, will man das Ziel aller Wissenschaft, nämlich objektive, bleibende Normen zu formulieren, erreichen, zu schwanken. Zwar ist es durchaus vorstellbar, literarische Texte und auch Werke der anderen Künste als „Botschaften” oder „Informationen” im Sinn der Nachrichtentechnik zu verstehen, mit deren Mitteln zu verschlüsseln und in Formeln zu bringen. In Formeln, die, auf andere Werke angewendet, deren Qualität in Form einer Mehr- und Minderwertskala bezeichnen. Auch hier noch handelt es sick um eine Imitation biologischer Vorgänge, die sich im Menschen abspielen, der ein Werk auf sich wirken läßt. Denn was er tut, ist nichts anderes, als ein unerhört rasches, intensives und beispielreiches Vergleichen mit Vorstellungen, Erfahrungen, Normen, die er sich im Lauf seines Lebens und unter der Herrschaft für ihn gültiger Konventionen aogeeignet hat.

Was der Apparat nicht „versteht”

Soweit läßt sich die Leistungsfähigkeit von Apparaten, zumindest hypothetisch, in gewissen Grenzen heute bereits auch praktisch, forcieren. Doch, wozu kein Apparat der Welt je imstande sein wird, ist, einen Stilwandel zu verstehen und sich ihm „automatisch” anzupassen. Nochmals ein simples Beispiel. Stellen wir uns einen auf romanische Architektur dressierten Computer vor. Die Gotik bricht an. Ihm wird der Bauplan einer Kathedrale zur ästhetischen Begutachtung vorgelegt. Der Spitzbogen scheint im „Weltbild” der in ihm gespeicherten Daten nicht auf, wird also ‘abgelehnt. Daraus der Lehrsatz, daß die Maschine reaktionär bis zur Absolutheit ist. Allein der Mensch ist imstande, sein Verhältnis zur sich verändernden Umwelt konstant lebensgerecht zu modifizieren. Der Apparat kann in alle Ewigkeit nur stereotyp ausführen, was ihm eingegeben ist. Im Rahmen eines Reihenexperiments wurden an je rund 25 Werken dichterischer Prosa einerseits und politischer und wissenschaftlicher Schriften anderseits mechanische Silben- und Wörterauszählungen durchgeführt. Dabei ergab sich, daß zum Beispiel Karl May in „Winnetou I” und Chamisso im „Schlemihl” gleicherweise im Durchschnitt Wörter von je 1,6 Silben verwenden oder von Schlieffen in seiner Abhandlung „Cannae” ebensoviele Wörter pro Satz verwendet wie Hesse im „Steppenwolf”, nämlich 20, und Goethe in „Hermann und Dorothea” mit 22wortigen Sätzen die gleiche Durchschnittsziffer erobert wie Joos im „Lehrbuch der theoretischer Physik”. Derart drollig anmutende Feststellungen deuten nicht nur die Grenzen der Anwendbarkeit kybernetischer Methoden auf die Künste an, sondern auch die Notwendigkeit der strengen Selbstdisziplin der Forscher, die sich vom Elan, mit dem sie in Neuland vorstoßen, nicht verleiten lassen dürfen, die gigantischen Leistungen vorhandener oder noch zu erfindender Apparate, die allein im Bereich totaler Determinierung operieren, mit Phänomenen des Lebens und des Geistes in einen Topf zu werfen.

Die Idee zumal, die immer wieder durch die Seiten der einschlägigen Literatur geistert, wonach der auf analytischer Basis sich abwickelnde Vorgang der Datenverarbeitung umkehrbar sei, und mit genügend Material gefütterte Apparate Kunst hervorzubringen vermöchten, käme dem Abtreten des schöpferischen Menschen aus der Weltgeschichte, dem geistigen Suicid, gleich. So faszinierend der Gedanke sich auch anbietet, so prometheisch sich seine Verfechter auch fühlen mögen, übersehen sie doch mit erschütternder Blindheit, daß ein Mechanismus nichts wesenhaft anderes hervorbringen kann, als zuvor durch einen Nichtmechanismus, nämlich den Menschen, in ihn hineingetan wurde. Das gilt auch dann, wenn der Apparat durch die Geschwindigkeit seiner Abläufe, durch die Möglichkeit ungeheuerer Kombinationsvielfalt Wirkungen hervorbringen kann, zu denen das Einzelindividuum nicht imstande ist. Selbst das höchstpotenzierte Ergebnis des kompliziertest möglichen Apparats bleibt um all jene Elemente reduziert, die beim Menschen etwa das Reich unvorhersehbarer Paradoxien, der Alogik in der Logik, der willkürlichen Laune oder des allzu menschlichen Versagens ausmachen. Ohne solche und viele weitere Wesenheiten sind zwar perfekte Produkte denkbar, humane jedoch nicht.

Was im Bereich unseres Themas bleibt, ist eine hochwillkommene Fülle von Möglichkeiten, den analytischen Arm der Forschung zu verlängern, auf Gebieten, die bislan- kaum erschließbar waren, Vergleichsarbeiten großen Stils zu betreiben, Gesetzmäßigkeiten zu entdecken, die bisher verborgen bleiben mußten, weil die diesbezügliche Grundlagenerhellung zu kompliziert und zeitraubend war.

Aufschlußreiches Material zur Gesamtproblematik bietet der Band „Mathematik und Dichtung”, herausgegeben von Helmut Kreuzer und Rul Gunzenhäuser in der „Sammlung Dialog” der Nymphenburger Verlagsanstalt, die mit bisher sechs Werken in Paperback-Ausgaben auf Anhieb die Aufmerksamkeit weiter wissenschaftlich interessierter Kreise auf sich ziehen konnte. Des weiteren sei empfohlen: die Lektüre der neueren einschlägigen Schriften Max Benses; „Der Heliand — Theologischer Sinn als tektonische Form” von Johannes Rathofer, Köln—Graz 1962; „Die Hauptrichtungen der Litera tursozio- lagie von H. N. Fügen, Bonn 1964: „Kybernetische Grundlagen des Lernens und Lehrens” von Felix von Cube, Stuttgart 1965; „Ästhetisches Maß und ästhetische Information” von Rul Gunzenhäuser, Qudckborn Hamburg 1962.

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