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Über Kommunikation, Macht und Geschwindigkeit.

Ein gewaltiger Geschwindigkeitsimpuls geht durch die Welt der Informationsökonomie. Wie reagieren die Menschen darauf? - Ich habe nie zu den Euphorikern gehört, die geglaubt haben, diese Entwicklungen würden ins Schlaraffenland führen. Der Europäische Rat, also das bisher höchste Gremium der Europäischen Union, hat in einer Tagung in Lissabon vor wenigen Jahren so getan, als ob man Europa nur zu einer großen Informationsgesellschaft machen müsse, und schon würden alle Probleme der Arbeitslosigkeit beseitigt sein. Man hätte schon damals wissen können, dass das Unsinn ist. Heute weiß man es erst recht. Eine globale Abschätzung der Arbeitsplatzwirkungen der digitalen Revolution ist schwierig; es gibt Forscher, die annehmen, dass Länder wie zum Beispiel Indien - Indien produziert mehr englischsprachige Ingenieursdiplome pro Jahr als die Vereinigten Staaten und hat im übrigen niedrige Löhne - von den Veränderungen insgesamt profitieren. Bei uns hingegen ist es so, dass all die Mobilfunk- und Onlineaktivitäten weniger Arbeitsplätze geschaffen haben, als bei der Deutschen Telekom abgebaut worden sind.

Meine These ist: Es werden sich sogenannte Zweidrittelgesellschaften entwickeln - mit einem produktiven Zweidrittelblock, in dem die Symbolanalytiker (vielleicht 20 Prozent der Beschäftigten) die Zugpferde spielen; aber natürlich werden die Reste von Industriearbeit und Agrarproduktion mitgenommen: Auch in der digitalen Gesellschaft brauchen wir Elektriker, Köche, Meister, die Fertigungsstrassen überwachen können und einfache Dienstleistungen aller Art. Jenseits des Zweidrittelblocks aber wird ein drittes Drittel entstehen, das diejenigen umfasst, die entweder keine wettbewerbsfähigen Arbeitsplätze finden oder keine wollen. Und daraus werden sich Konflikte entwickeln.

Prototyp "Entschleuniger"

Denn eines wird täglich deutlicher: Es gibt eine wachsende Minderheit, die nicht so leben will, wie man im digitalen Kapitalismus leben muss: Schnell, mobil, flexibel, geistesgegenwärtig, anpassungsfähig. Der Typus, der erklärt, es sei ihm wichtiger, seine Kinder vernünftig zu erziehen als achtzig Stunden in der Woche hinter einem Job her zu hetzen, wird zum Prototyp. Ich nenne ihn den "Entschleuniger". In den Sozialstaaten Europas wächst die Zahl von Leuten, die es vorziehen, mit (vergleichsweise geringem) Patchwork-Einkommen zu existieren anstatt sich auf die digitale Ökonomie einzulassen.

Ich zitiere Ihnen aus der Website einer Arbeitsloseninitiative in Berlin. Sie nennt sich die "Glücklichen Arbeitslosen", ihr Ziel ist die "Zurückeroberung der Zeit". Wer aktiv sein wolle, habe keine Zeit zu arbeiten. Daraus entwickelt sich eine schneidende Kritik am Lebensstil von uns allen: "Wer möchte gern wie ein gestresster Manager leben, wer will sich den Kopf mit seinen sinnlosen Ziffernreihen vollstopfen, seine blondgefärbten Sekretärinnen ficken, seinen gefälschten Bordeaux trinken und an seinem Herzinfarkt verrecken? Wir wünschen uns eine andere Art von Eingliederung."

Eine verrückte Splittergruppe? Heute vielleicht schon. Aber selbst heute stehen die "Glücklichen Arbeitslosen" nicht allein. Von einem bekannten deutschen Politiker existiert das Verdikt: "Wir werden von einer Horde arbeitswütiger und dadurch psychisch kranker Narren regiert, die im Rausch ihrer Termine kaum noch Bezug zur Lebensrealität haben. Und am Rande lebt das Heer der Arbeitslosen, denen ihre Freizeit verständlicherweise sinnlos erscheint." Und ein liberaler Journalist hat die bissige Frage gestellt: "Steckt nicht auch Entfremdung darin, dass wir uns 14 Stunden am Tag müde arbeiten, einschlafen und andererseits dann sozusagen mit subventionierten Billigarbeitskräften unsere Kinder spazierenfahren lassen?" Das eine ist eine Fundamentalkritik der Existenzform unserer politischen Klasse, das andere eine Fundamentalkritik der Kinderaufzucht in der oberen Mittelschicht. Die neue Ideologie greift um sich wie ein Ölfleck. Wer in der Arbeitswelt zurückgestoßen wird, wird begründen, warum Erwerbsarbeit fragwürdig sei. Es werden Millionen darauf verfallen, dass Eltern sich viele Stunden täglich ihrem Säugling widmen müssten, dass Menschen meditieren sollten, dass ein gesunder Körper viel Pflege brauche, dass nur ein sparsamer Lebensstil ökologisch sei oder dass das Weltgericht so unmittelbar bevorstehe, dass es keinen Sinn mache, neue Teilchenbeschleuniger zu bauen oder neuartige Zahnzwischenraumbürsten zu vermarkten. Eine neue Welle der antirationalistischen Kulturkritik wird aufsteigen: Pathosgeladene Proteste gegen die "Vergletscherung der Seele", neue Familienwerte, eine Dosis neuer Religiosität, aber auch politisch, mystisch oder apokalyptisch auftretende, widerständige Zirkel.

Woher das alles kommt? All die Angst vor der Geschwindigkeit, das Misstrauen gegen die Bilder? Da kann man eine Namensliste herstellen, die bis zu Platon zurückreicht. Auch die neuere Genealogie wäre lang genug: Schopenhauer, Nietzsche, Oswald Spengler, Ludwig Klages, Max Scheler, Leopold Ziegler, Friedrich-Georg Jünger, Martin Heidegger und so fort: Stoff für viele Magisterarbeiten. Ich beschränke mich auf eine kleine verwunderte Bemerkung: Wieso bemerkt die grüne Linke eigentlich nicht, dass ihre Medienkritik und Technikhermeneutik aus grundkonservativem, metaphysischem Boden wächst? Und wieso glaubt sie, eine aufklärerische Politik - sagen wir, die Ablösung des ius sanguinis durch das ius soli - mit der Modernitätskritik - sagen wir, eines Martin Heidegger - vereinbaren zu können?

Nietzsches Ekel

Ich vernachlässige die vielen falschen Argumente gegen die Technik. Aber es gibt natürlich auch solche, die auf sorgfältig überlegten Entscheidungen, oft genug metaphysischen Erfahrungen und einem darauf aufgebauten System beruhen. Dazu gehört die kulturkritische Medienanalyse Friedrich Nietzsches, die fast bei allen Datendichtern des späten 20. Jahrhunderts nachwirkt. Dieser Altphilologe war einer der scharfsinnigsten Kritiker der Massenkultur. Seine Zeit war ihm das "zerschriebene Zeitalter"; "noch ein Jahrhundert Zeitungen", so die provokante Prognose, "und alle Worte stinken". Irgendwelche Ideen von einem Recht eines jeden auf Bildung waren ihm fremd: "Dass jedermann lesen lernen darf und liest, das ruiniert auf die Dauer nicht nur die Schriftsteller, sondern die Geister überhaupt." Man darf nicht verkennen, dass im Widerwillen vieler Datendichter gegen den "Sprachmüll" und die "Bilderflut" der Mediengesellschaft Nietzsches Ekel steckt. Einerseits ist solche Sensibilität für jede Kultur unverzichtbar. Andererseits würde dieser Ekel, nähmen ihn die Apparate ernst, die elitistische Aussperrung der Massen bewirken. Für Nietzsche kein Problem - für politische Demokratien (vom digitalen Kapitalismus nicht zu reden) schon.

Die europäische Medienkritik beklagt die Veränderungen der Kommunikation unter dem Einfluss von Wissenschaft und Technik. Also träumen sich die einen zurück in die kommunikative Ursituation präliterarer Gesellschaften, andere würden sich am liebsten an der meditativen Privatlektüre des späten 18. Jahrhunderts als Krönung bürgerlicher Individuation festkrallen, wieder andere träumen sich voran in die Noosphäre eines globalen Netzwerkes, in dem alle denkenden Teilchen untereinander kommunizieren und eine gemeinsame Struktur bilden.

Für viele dieser Utopien bildet Heideggers Kritik des "Gestells" eine feste, solide Plattform: Der Widerwille gegen die wunderbare Vielfalt ingeniöser Kommunikationsprothesen - all diese Videorecorder, Mobiltelefone, Anrufbeantworter, Pager, Verkehrsleitsysteme, Fernsehapparate oder Notebooks - ist auf den Begriff gebracht: "Gestell". Der Mensch soll sich, sagen die Datendichter in höchst verschiedener Intonation, nicht in Gerede, Neugier und Zweideutigkeit verlieren, sondern wesentlich werden. Er soll nach dem Sein hinter dem Dasein schürfen.

Wenn sich die Europäer allerdings vom Seins-Denken ein schlechtes Gewissen machen und in der Kommunikationstechnik sowie bei der Entwicklung einer neuen Kommunikationskultur abdrängen lassen, werden sie das teuer bezahlen. Nicht nur ökonomisch mit Arbeitsplätzen, sondern auch intellektuell. Sie würden die Lasten, die das Projekt der Moderne ohne Zweifel aufhäuft, tragen müssen, ohne seine neuartigen Chancen genügend nutzen zu können.

"Natur" vs. "Plastikwelt"?

Neuerdings ist viel von "Medienökologie" die Rede. Ein solcher Denkansatz müsste gerade die Artenvielfalt der Kommunikation verteidigen. In Wirklichkeit hat sich die antitechnische Kulturkritik des Ökologiebegriffs bemächtigt und produziert Ökokitsch. Künstlichkeit - die Chance, zwischen Menschen einen Anrufbeantworter als Verzögerer zu installieren, oder die Vermeidung aufdringlicher Hautnähe durch die Briefform oder E-Mail - ist eine Errungenschaft der Kultur, kein Verfall. Geschwindigkeit kann herrlich (und im übrigen höchst nützlich) sein. Der Faszinationskraft von technischen Bildern muss nur misstrauen, wer in Angst vor den Untiefen der eigenen Gefühlswelt lebt. Es ist roh und täppisch, die kunstvolle Vielstufigkeit technisch gestützter Kommunikation auf das archaische Ich-Du zu versimpeln und die Face-to-face-Kommunikation gegen technisch gestützte Kommunikation auszuspielen.

Natürlich gibt es immer und überall pathologische Vereinseitigung: netzsüchtige Spieler, lesefeindliche Dauerglotzer, ruhelose Handyterroristen, Videoten. Kommunikationskultur verlangt die Einstellung auf die je gegebene kommunikative Grundsituation. Gelegentlich sind Strategien der Verlangsamung, Personalisierung, Disziplinierung oder (im Gegenteil: Emotionalisierung) dringend geboten. Aber es ist jünglingshaft, jedes Verkaufsgespräch, jeden Klatsch, jeden emotionalen Austausch abzuwerten, weil Goethe und die Stein, Zuckmayer und Karl Barth und wer sonst noch große Momente der Existenzerhellung in der Sinnkommunikation hatten. Das gängige medienökologische Plädoyer für die "Natur" und gegen die "Plastikwelt" endet bei der Innerlichkeit jener Deutschlehrertruppe, die das berühmte Lied singt: "Die Amis haben uns unseren Hölderlin/Bratwurst weggenommen und durch Negermusik und Hamburger ersetzt." Ein leiernder Ohrwurm, kitschig und glitschig.

Peter Glotz, geb. 1939, SPD-Vordenker, von 1981 bis 1987 Bundesgeschäftsführer seiner Partei, ist Professor für Kommunikationswissenschaft und Direktor am Institut für Medien- und Kommunikationsmanagement der Universität St. Gallen sowie Vertreter der deutschen Bundesregierung im EU-Konvent.

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