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Jobs 2.0: Die verordnete Selbstoptimierung

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Was erwarten sich junge Menschen vom Berufsleben - und was sind sie bereit zu investieren? Lässt die Arbeitswelt ihnen überhaupt noch Alternativen zum viel beklagten Opportunismus? Reflexionen aus der Jugendkulturforschung zum Tag der Arbeit am 1. Mai.

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Was erwarten sich junge Menschen vom Berufsleben - und was sind sie bereit zu investieren? Lässt die Arbeitswelt ihnen überhaupt noch Alternativen zum viel beklagten Opportunismus? Reflexionen aus der Jugendkulturforschung zum Tag der Arbeit am 1. Mai.

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Ágnes Heller, die große ungarische Philosophin, hat Utopie als eine Mischung aus Einbildungskraft, den Ansichten einer Zeit und der Leidenschaft der Hoffnung beschrieben. Die Leidenschaft der Hoffnung nun ist unter den heute unter 30-Jährigen kaum zu finden. Im Gegenteil. Es wird wenig gehofft und spekuliert, hingegen viel kalkuliert und kühl geplant. Wo das Kalkül regiert und die Leidenschaft fehlt, dort muss die Utopie schweigen. Und so lebt unsere Jugend vor allem in der Gegenwart ein kurzsichtiges Leben ohne weite raum-zeitliche Perspektive. Der Blick ist immer auf das Naheliegende, Kleinräumige, unmittelbar Persönliche gerichtet. Ein Sozial-Provinzialismus herrscht vor, der für alles, was über die eigene kleine Welt hinausgeht, blind sein will. Alles Große und Globale ist den meisten Jungen kein Bedürfnis, sondern eine aufgezwungene Last.

Um sich selbst kreisend

Sie richten ihre ganze Energie auf den eigenen Lebensentwurf, analog zum Handeln eines Unternehmers, der immer nur den Erfolg seines Betriebs und niemals den der ganzen Volkswirtschaft im Blick hat. Man kann es Egoismus nennen. Aber der Egoismusbegriff ist pejorativ, ein moralischer Vorwurf schwingt immer mit. Moral kann man jedoch nur von dem verlangen, der über alternative Haltungs- und Handlungsoptionen entscheiden kann. Die Jugend allerdings kann heute nicht frei darüber entscheiden, narzisstisch oder selbstlos, egozentrisch oder gemeinschaftsorientiert zu sein. Die Ideologie des Entrepreneurship, die Start-up-Philosophie, das verordnete Adorieren des eigenen Selbst und seines Initiativpotenzials machen die Entscheidung für ein utopieloses und pragmatisches Mitmacher-Leben fast "alternativlos". Die Opfer, die für ein "Gegenden-Strom-Schwimmen" zu bringen sind, sind so groß, dass nur die Minderheit der Verwegensten ein Leben gegen den Zeitgeist ins Auge zu fassen wagt.

Noch ein Zitat von Ágnes Heller: "Wer Selbstbewußtsein hat, identifiziert sich nicht spontan mit sich selbst, er hat Distanz zu sich selbst." Die heutige Jugend ist selbstverliebt, total distanzlos zu sich selbst. Wahrscheinlich hat es niemals eine so große Masse an Menschen gegeben, die so stark auf sich selbst bezogen gelebt hat, wie der Großteil der heutigen Jugend. Vor allem, wenn es um ästhetische Fragen geht, ist man hochaktiv. Gutes Aussehen geht über alles. Das ganze Leben ist primär Design, Lifestyle und Statusdemonstration. Heute trägt sogar der Dalai Lama eine Rolex. Was für ein Zeichen für die Welt.

Das Innere ist nach außen gekehrt. Das sichtbare Materielle zählt mehr als der Geist. Aber die Überidentifikation mit sich selbst ist auch ein Zeichen von Furcht, von fehlendem Vertrauen in die eigene Wirksamkeit, von mangelndem Selbstbewusstsein. Der junge Mensch der Gegenwart klammert sich voll Angst an sich selbst, weil er fürchtet, sich in der Masse der Möglichkeiten und unter dem Druck übermächtiger Außeneinflüsse zu verlieren. Wenn sich schon sonst nichts und niemand nach mir richtet, sagt er sich, wenn ich nicht mehr als der Spielball anonymer Mächte bin, dann konzentriere ich mich auf das Einzige, worüber ich Macht haben kann: mein eigenes Selbst.

Lifelogging, digitale Selbstvermessung, Quantified Self und Selbstoptimierung sind zu relevanten Idealen der postmodernen Jugendkultur geworden. Man will sich selbst lieben, aber nicht das, was man tatsächlich ist, sondern das Idealbild von sich, das gesellschaftlich determiniert ist. Das Ideal ist der immer funktionstüchtige, kreative, erfolgreiche und gutaussehende Optimist. Narziss liebte sein reales Ich, der Gegenwartsmensch liebt sein Ideal-Ich, an dem er wie Sisyphos permanent arbeiten muss ohne jede Aussicht darauf, an ein Ende zu kommen. Wer auf das Ich-Ideal verpflichtet ist, kann niemals Erfüllung finden. Zur Ruhelosigkeit ist er verurteilt, bis er ins Grab fällt.

Die Jugend der Gegenwart ist immer bereit zur Aufgabe ihres realen Ich, wenn sie dafür dem gesellschaftlich verordneten Ich-Ideal einen Schritt näherkommen kann. In Ausbildung und Beruf ist man genauso "außenorientiert" wie in der Freizeit. Relevant ist nicht der, der ich bin, sondern der ich sein könnte. Das Selbstoptimierungsdiktat ist internalisiert. Man tut das, was verlangt wird, damit man am Ende besser dasteht als am Anfang der Ausbildung oder einer Job-Episode. Der Weg nach vorn ist immer der Weg weg von sich selbst.

Kalkulation und Rationalisierung

Karl Marx hat für ein solches Handeln den Begriff der "Verdinglichung" geschaffen. Er beschreibt das Prinzip "der auf Kalkulation, auf Kalkulierbarkeit eingestellten Rationalisierung"(Georg Lukács). Der Mensch folgt nicht mehr seinen Bedürfnissen, er folgt den Bedürfnissen der "Maschinerie", die ihn umgibt. Musste der Mensch früher dazu oft mit Gewalt gezwungen werden, so verdinglicht sich die Jugend heute ohne Fremdzwang selbst. Selbstverdinglichung in Ausbildung und Arbeit findet statt. Wenn es darum geht, sich der Rationalität des Systems zu unterwerfen, dann schreit die Mehrheit der Jungen heute laut, deutlich und freiwillig "Hier". Warum: Weil es heute so der Brauch ist. Selbstverdinglichung ist das dominierende Brauchtum unserer postmodernen Wertegemeinschaft. Es ist der neue Brauch, der alle alten Bräuche der selbstbewussten Widerständigkeit vollständig zu ersetzen droht.

Und der verdinglichte Mensch liebt neben sich selbst, wie könnte es anders sein, die künstliche Dingwelt des Konsums am meisten. Der junge Mensch ist "Warenfetischist". Das "Shoppen" ist zu seiner zweiten Natur geworden. Dafür braucht er Geld und freie Zeit. Work-Life-Balance ist deshalb heute tatsächlich "Work-Konsum-Balance". Identitäten sind im selben Ausmaß Berufs-wie Freizeitidentitäten. Man kann sich nicht mehr zu hundert Prozent auf den Job einlassen, weil man gesellschaftlich auch auf die Konsumentenrolle verpflichtet ist. Es genügt nicht mehr, ein guter "Unternehmer seiner Selbst" (Focault) zu sein, man muss auch ein perfekter Konsument seiner Selbst sein. Verzicht und Genuss, Anpassung und Entgrenzung, Selbstkontrolle und Ekstase müssen unter das Dach einer Person gezwungen werden.

Und das alles in einer Abstiegsgesellschaft, in der der Anteil der unter 30-Jährigen an der gesellschaftlichen Mitte deutlich zurückgeht, in der es immer schwerer wird, seine Position in der Mittelschicht zu halten. Oliver Nachtwey entwickelt in seinem Buch "Die Abstiegsgesellschaft" die "Rolltreppenmetapher". Anstelle der Aufzugsmetapher der 1970er-Jahre, die davon handelte, dass die ganze Gesellschaft vom Erdgeschoss in den ersten Stock gehoben wird, nun die Rolltreppenmetapher. Sie bedeutet, dass man nur durch das permanente Anlaufen gegen die Fahrtrichtung der Rolltreppe seinen Platz halten kann. Wer nur kurz stehenbleibt, fährt ungebremst in die Tiefe.

Und damit sind wir am Ende und bei der Furcht. Die Jugend der Gegenwart hat Furcht vor dem Abstieg, hat Furcht, den Konkurrenzkampf an den Unis nicht zu bestehen, hat Furcht, als Lehrling am unteren Ende der Berufshierarchie übersehen, vergessen und irgendwann einmal aussortiert zu werden. Und das Schlimmste ist, sie darf das nicht einmal zugeben. Denn wer sich nicht optimistisch gibt, stigmatisiert sich selbst als Loser. Und so lügen sich die Jungen, wie wir selbst übrigens auch, täglich gegenseitig mit positiver Phraseologie ins Gesicht. Und um diese verlogenen optimistischen Selbstpräsentationen ertragen zu können, nehmen dann alle ihre SSRI-Tabletten oder gehen zur Gesprächstherapie, je nachdem, ob sie Performer oder Postmaterialisten sind, ob sie eher die knallharte Business-Persona oder die selbstreflexive Moral-Persona zu präsentieren gelernt haben.

Das Leben als ewiges Vorwort

Was kann man nun angesichts solcher dystopischer Perspektiven der Jugend, aber auch den Alten raten? Ich würde sagen: Werdet zu Ironikern! Vladimir Jankélévitch beschreibt den Ironiker als Menschen, der nicht an etwas haften noch es abwägen will, der liebt, aber nur mit einem kleinen Teil seiner Seele, und wenn er schaut, dann nur mit "der Spitze der Augen". Er berührt alles unendlich leicht, er streift es nur. Der Ironiker flattert von einer Anekdote zur anderen, von plaisir zu plaisir, kostet von allem, ohne sich aber irgendwo endgültig niederzulassen. Das ironische Leben ist ein ewiges Vorwort, es bleibt zu allem ein wenig auf Distanz, vermeidet das zu gründliche Engagement. Diese Leichtigkeit der Ironie braucht man, will man nicht vom "Gas des Neoliberalismus"(Gilles Deleuze) narkotisiert und zum funktionierenden Ding herabgewürdigt werden.

Der Autor leitet das Institut für Jugendkulturforschung in Wien

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