holmes - © Foto: Jana Reininger

Tödlicher Personalmangel: Persönliche Assistenz für Menschen mit Behinderung

19451960198020002020

Der aktuelle Arbeitskräftemangel zeigt sich auch in der persönlichen Assistenz. Für viele Menschen mit Behinderung ist dieser Missstand lebensgefährlich.

19451960198020002020

Der aktuelle Arbeitskräftemangel zeigt sich auch in der persönlichen Assistenz. Für viele Menschen mit Behinderung ist dieser Missstand lebensgefährlich.

Werbung
Werbung
Werbung

Seit sieben Stunden hat Christina Holmes keinen Schluck Wasser getrunken. Sie hat Durst, ihre Kehle ist trocken und der Wasserhahn, wenige Meter neben ihr, funktionstüchtig. Doch die 25-Jährige ist heute alleine. Ohne ihre Assistenz kann sie nicht auf die Toilette gehen. Also lieber durstig bleiben, so ihre Entscheidung.

Navigator

Liebe Leserin, lieber Leser,

diesen Text stellen wir Ihnen kostenlos zur Verfügung. Im FURCHE‐Navigator finden Sie tausende Artikel zu mehreren Jahrzehnten Zeitgeschichte. Neugierig? Am schnellsten kommen Sie hier zu Ihrem Abo – gratis oder gerne auch bezahlt.
Herzlichen Dank, Ihre Doris Helmberger‐Fleckl (Chefredakteurin)

diesen Text stellen wir Ihnen kostenlos zur Verfügung. Im FURCHE‐Navigator finden Sie tausende Artikel zu mehreren Jahrzehnten Zeitgeschichte. Neugierig? Am schnellsten kommen Sie hier zu Ihrem Abo – gratis oder gerne auch bezahlt.
Herzlichen Dank, Ihre Doris Helmberger‐Fleckl (Chefredakteurin)

Christina Holmes ist Referentin für Recht und Inklusionspolitik der Lebenshilfe Österreich. Kurz vor der Pandemie zog die Kärntnerin wegen eines Jobangebots nach Wien. Holmes hat eine weit fortgeschrittene Muskelerkrankung: Mehr als 300 Gramm kann sie selbst nicht heben. Eine Kaffeetasse geht gerade noch, für alles weitere braucht sie Unterstützung. Für die Zeit nach ihrem Umzug hat Holmes eine Webseite erstellt, um ein sorgfältig gestaltetes Inserat zu schalten: „Möchtest du einen sinnvollen und für mich lebenswichtigen Job übernehmen?“, steht am Ende einer ausführlichen Erklärung des Arbeitsprofils von persönlichen Assistent(inn)en für Menschen mit Behinderung geschrieben. 70 Interessierte haben sich damals gemeldet, um in ihrem Team zu arbeiten, erzählt Holmes. Heute, mitten in all den Krisen – von Corona über Inflation bis hin zum Krieg in Europa und manifestem Arbeitskräftemangel – meldet sich kaum noch jemand für den Job. Er sei in derartig unsicheren Zeiten einfach zu prekär.

Prekäre Dienstverhältnisse

Rund 2000 Menschen mit Behinderung beziehen derzeit in Österreich persönliche Assistenz. Basierend auf ihrer ärztlich eingeschätzten Pflegestufe erhalten sie eine monatliche Förderung, mit der sie ihre Mitarbeiter(innen) zahlen können.

Persönliche Assistent(inn)en unterstützen ihre Arbeitgeber(innen) beim Aufstehen, beim Waschen und beim Anziehen. Das macht den Job intim. Auswählen zu dürfen, welche Bewerber(innen) zu einem passen und welche nicht, ist daher essenziell, erklärt Matthias Forstner, der an der Johannes Kepler Universität in Linz zu Disability Studies forscht und selbst mit persönlicher Assistenz arbeitet.

Persönliche Assistenz für den Arbeitsalltag wird österreichweit einheitlich verwaltet und bezahlt, die Mitarbeitenden erhalten Anstellungsverhältnisse. Assistenz im Privatbereich hingegen fällt je nach Bundesland unterschiedlich aus. In vielen Fällen ist das Budget dafür zu niedrig, oft werden zu geringe Stundenausmaße bewilligt, Assistent(inn)en werden nicht angestellt und leben in prekären Situationen.

Im Jahr 2006 lag der Stundensatz für Assistenz im Privatbereich in Wien bei 16 Euro brutto. Anfang 2021 wurde er auf 18 Euro angehoben, Anfang 2023 auf 20 Euro. Doch das Geld verlaufe im Sand, so Holmes, die Erhöhung sei zu gering. Mit 20 Euro brutto liegen die Chancen im Wettbewerb um gute Arbeitskräfte schlecht. Immer weniger Menschen – bisher vor allem Studierende oder Mütter, die flexible Arbeitszeiten benötigen, wie Holmes erzählt – sind bereit, zu diesen Konditionen zu arbeiten.

Auch Dorothea Brożek, die als Unternehmensberaterin und Coachin arbeitet, lebt mit Assistenz: „Die Situation um persönliche Assistenz ist heute noch dramatischer als vor zwei, drei Jahren, weil der Personalmangel auch in dieser Branche festzustellen ist“, erzählt sie. Ginge es nach ihr, so stünden heute zumindest 40 Euro inklusive aller Abgaben zur Verfügung, damit Arbeitskräfte gehalten werden könnten. Immer wieder bitten Bewerber(innen) Christina Holmes, ihr das Gehalt schwarz auszuzahlen, um zu vermeiden, dass von dem geringen Betrag noch weniger übrigbleibt. Doch für Holmes ist das keine Option.

Für Arbeitgeber(innen) wie sie bedeutet der Personalmangel alltägliche, unangenehme oder gar lebensgefährliche Situationen: Wer stürzt, bleibt in vielen Fällen einfach liegen. Wer sich verschluckt, kann ohne Hilfe ersticken. Doch die drastischen Fälle sind noch nicht alles, wie Matthias Forstner erzählt. Oft mangele es Menschen an Assistenz für Freizeitaktivitäten, wie etwa Kinobesuche oder Einkaufsbummel, erklärt der Soziologe – Dinge eben, die alle anderen Menschen ganz verständlich machen. Und auch Christina Holmes erzählt von der Unmöglichkeit, einfach einmal einen Urlaub zu buchen.

Immer wieder bitten Bewerberinnen Christina Holmes, ihr das Gehalt schwarz auszuzahlen, damit vom geringen Betrag mehr übrig bleibt.

Dass Assistenz nach Privatund Arbeitszeit unterteilt wird, kann laut Forstner durchaus Vorteile haben – etwa dann, wenn Assistenznehmer(innen) nicht dieselben Menschen mit intimer Pflege sowie bürokratischen Dingen im Job beauftragen wollen. Aber es macht den Alltag auch kompliziert, denn die Grenzen zwischen Freizeit und Erwerbsarbeit verlaufen nicht immer so klar. „Ich komme überhaupt nicht in die Arbeit, wenn mir in der Früh niemand beim Aufstehen hilft“, erklärt Christina Holmes – und Matthias Forstner betont: „Die Assistenznehmerinnen sollten selbst entscheiden dürfen, ob sie die Assistenten trennen möchten oder nicht.“

Es ist die Forderung nach einem Leben in Würde, mit der die „Selbstbestimmt Leben“-Bewegung seit den 1960er Jahren das Modell der persönlichen Assistenz überhaupt erst erkämpfte – und dessen Fehlen weitreichende Folgen haben kann. Im April trat Andrea Mielke, Assistenznehmerin mit Rollstuhl, mit einem Statement an die Öffentlichkeit, von dem der ORF berichtete: „Wenn du nicht zäh und mutig genug bist, hast du eh verloren, denn der Kampf gegen die Behörden ist der Schlimmste und das steht fast keiner durch.“ Wenige Tage darauf nahm Mielke als erste Salzburgerin einen assistierten Suizid in Anspruch – ein Abschied, an den Dorothea Brożek und Christina Holmes bis heute oft denken.

Verbessernde Maßnahmen?

Wegen all dieser Probleme beschloss Holmes im Jänner 2023, einen offenen Brief an das Sozialministerium, den Wiener Bürgermeister und den Sozialstadtrat zu schreiben. Sie bat um eine Überarbeitung der Arbeitsverhältnisse, „um das Leben von Menschen mit Behinderungen durch den Assistenzmangel nicht weiter zu gefährden“. Tatsächlich soll im Frühjahr 2023 ein lange zuvor geplantes Pilotprojekt starten, in dem eine bundesweite Vereinheitlichung des Assistenzsystems getestet wird. „Mit dem Pilotprojekt für die persönliche Assistenz in allen Lebenslagen ist es nach jahrelanger Diskussion erstmals gelungen, die Grundlage für die Vereinheitlichung in allen Bundesländern zu schaffen“, heißt es dazu auf Anfrage der FURCHE aus dem Sozialministerium; und auch Holmes, Forstner und Brożek befürworten diese – vorausgesetzt, sie bringe eine Verbesserung der persönlichen Assistenz im Privatbereich. Eine umfassende arbeits- und sozialversicherungsrechtliche Absicherung, Fortbildungsmöglichkeiten und Supervision soll diese laut Sozialministerium ermöglichen.

Die Teilnahme nur dreier Bundesländer – nämlich Tirol, Salzburg und Vorarlberg – sei hingegen eine Farce, so Brożek. Ernst Kočnik, Obmann des Beratungs-, Mobilitäts- und Kompetenzzentrums der Universität Klagenfurt sowie selbst Assistenznehmer, erklärt, dass es Gespräche über eine bundeseinheitliche Lösung für persönliche Assistenz schon seit Jahrzehnten gebe. Ein prüfendes Pilotprojekt sei demnach gar nicht mehr notwendig. Schließlich habe sich in den vergangenen Jahren deutlich gezeigt, was funktioniert und was eben nicht. Er fragt sich: „Ist das vielleicht eine finanzielle Verzögerungstaktik?“

Die Angelegenheit ist jedenfalls akut. Während jener Tage, in denen Christina Holmes ihrer Assistenz den offenen Brief diktierte, kündigte wieder eine Mitarbeiterin. Das Einkommen sei zu niedrig, die arbeitsrechtlichen Rahmenbedingungen zu schlecht, begründete sie. Kurz darauf gab eine weitere Assistentin ihre Kündigung bekannt. Holmes’ Unterstützungsteam soll aus zwölf Personen bestehen. Heute sind nur noch acht Stellen besetzt.

Dieser Text erschien unter dem Titel "Für ein Leben in Würde" in der Printausgabe der FURCHE Nr. 5/2023.

Navigator

Hat Ihnen dieser Artikel gefallen?

Mit einem Digital-Abo sichern Sie sich den Zugriff auf mehr als 175.000 Artikel seit 1945 – und unterstützen gleichzeitig die FURCHE. Vielen Dank!

Mit einem Digital-Abo sichern Sie sich den Zugriff auf mehr als 175.000 Artikel seit 1945 – und unterstützen gleichzeitig die FURCHE. Vielen Dank!

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung