bett - © Foto: iStock/KatarzynaBialasiewicz (Bildbearbeitung: Rainer Messerklinger)

Ein Jahr Assistierter Suizid: Eine Bilanz

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Seit Beginn des Jahres ermöglicht das Sterbeverfügungsgesetz unter strengen Auflagen assistierten Suizid. Wer sind die Menschen, die das selbstbestimmte Sterben in Anspruch nehmen, und was zeigt die Bilanz des Jahres?

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Seit Beginn des Jahres ermöglicht das Sterbeverfügungsgesetz unter strengen Auflagen assistierten Suizid. Wer sind die Menschen, die das selbstbestimmte Sterben in Anspruch nehmen, und was zeigt die Bilanz des Jahres?

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Seit 1. Jänner 2022 ist in der Pflege älterer und kranker Menschen eines anders: das österreichische Sterbeverfügungsgesetz. Personen mit einer unheilbaren, zum Tod führenden oder einer schweren, dauerhaften Krankheit dürfen damit unter strengen Auflagen assistierten Suizid in Anspruch nehmen – sofern sie sich einem Aufklärungsgespräch mit zwei Ärzten oder Ärztinnen mit palliativmedizinischen Qualifikationen unterzogen und ein Gutachten über ihre geistigen Kräfte und freie Entscheidungskraft erhalten haben. Wie viele Menschen in Österreich seitdem die Möglichkeit des assistierten Suizids in Anspruch genommen haben, ist nicht transparent. Offizielle Zahlen stehen journalistischen Zwecken nicht zur Verfügung, antwortet das Team des Gesundheitsministeriums auf die Anfrage der FURCHE und verweist dabei auf datenschutzrechtliche Festlegungen.

„Jahrzehntelang litt meine Frau unter einem komplexen chronischen Schmerzsyndrom“, schreibt Klaus Sachs*. Wenige Wochen ist es her, dass seine Frau assistierten Suizid in Anspruch genommen hat. Seinen wahren Namen möchte der Niederösterreicher nicht nennen – zum Schutze seines Enkelkindes, das noch zu jung sei, um den Tod seiner Großmutter zu verstehen. Doch die Debatte über das Thema ist Sachs wichtig. Er lässt seinen Erfahrungsbericht über den Verein „Letzte Hilfe – Verein für selbstbestimmtes Sterben“ an die FURCHE übermitteln. Helene Sachs*, so steht darin geschrieben, vertrug keine Schmerzmittel, sie konnte nicht mehr wandern und nicht mehr spazieren, einfache Haushaltstätigkeiten lösten Schmerzen und Krämpfe aus. „Das Leben hörte auf, lebenswert zu sein.“

Hoffnung auf die Würde

Als der Verfassungsgerichtshof die Bundesregierung im Jahr 2021 dazu verpflichtet, ein Gesetz zu schaffen, das den assistierten Suizid unter strengen Auflagen ermöglicht, schöpfen Helene Sachs und ihr Mann „Hoffnung auf ein selbstbestimmtes, würdevolles Sterben“, wie Sachs schreibt. Es ist März, als das Paar beginnt, nach Mediziner(inne)n zu suchen. Doch die Suche gestaltet sich schwierig. In seinem Erfahrungsbericht kritisiert Klaus Sachs den „Spießrutenlauf“, wenn er von dem Bemühen erzählt, Ärztinnen und Ärzte zu finden, die bereit sind, die vorgegebenen Aufklärungsgespräche zu führen. „Menschen, die sowieso schon in einer Extremsituation sind, werden dazu verdammt, auf der Suche nach Hilfe einen Arzt nach dem anderen anzurufen und sich eine Absage nach der anderen zu holen“, schreibt Sachs.

Den großen Run auf den assistierten Suizid, der als Gefahr argumentiert wurde, hat es nicht gegeben.

Maria Katharina Moser ist Direktorin der Diakonie und nah dran an den realen Auswirkungen, die die Gesetzesänderung bringt. Für sie ist die Ablehnungshaltung der Mediziner(innen) nicht vertretbar. „Ich halte es schon für eine ärztliche Aufgabe, sich diesen schwierigen Gesprächen auch zu stellen“, sagt sie und erzählt von Diskussionsveranstaltungen, bei denen sie den Eindruck hatte, dass es Menschen eigentlich hilft, über das Thema zu sprechen – und von Studienergebnissen, nach denen ärztliche Beratung suizidpräventiv wirkt. „Es ist das Gebot der Stunde, das Thema nicht zu tabuisieren, hinzuschauen und offen ins Gespräch zu kommen“, sagt sie.

Präventive Gespräche

„Wir stehen für ein menschenwürdiges Sterben“, sagt Moser. „Sozial gut begleitet mit der entsprechenden Zuwendung, aber auch palliativ, medizinisch mit der entsprechenden Schmerzbekämpfung. Wenn assistierter Suizid für eine Person ganz ein dringender Wunsch ist, wollen wir dieser die Informationen auch nicht vorenthalten.“ So gibt es auch für die Mitarbeiter(innen) der Diakonie keine Regelung, nach der ihnen die Unterstützung bei den verschiedenen Schritten, die das Sterbeverfügungsgesetz vorsieht, grundsätzlich verboten oder erlaubt ist. Vielmehr seien individuelle Fälle auch individuell zu klären. „Wir hatten zwei oder drei Patientinnen, die den Wunsch nach assistiertem Suizid geäußert haben“, berichtet Moser über die Folgen des neuen Gesetzes im Pflegealltag. Letztlich aber habe sich noch keine(r) der betreuten Patient(inn)en tatsächlich für assistierten Suizid entschieden. „Im Gespräch hat sich sehr schnell herausgestellt, dass hinter diesen Wünschen psychische Problemlagen standen.“ Als diese bewältigt schienen, war auch der Wunsch nach assistiertem Suizid wieder fort. „Den großen Run auf den assistierten Suizid, der als Gefahr argumentiert wurde, hat es nicht gegeben“, sagt Maria Katharina Moser. „Doch noch ist das alles sehr neu. Wir müssen damit rechnen, dass die Zahlen steigen werden.“

Einer, der seit Langem davor warnt, ist der Schweizer Psychiater Raimund Klesse. „Die Menschen gewöhnen sich an das Sterben durch assistierten Suizid. Es findet eine Art Normalisierung statt“, ist er überzeugt. „Der Zeitgeist ist in den letzten Jahrzehnten in eine Richtung der Machbarkeit gegangen. Alles muss effizient und effektiv sein, schnell gehen und darf nichts kosten.“ In der Schweiz wurde der assistierte Suizid bereits in den 1940er Jahren als Ausnahmeregelung bei „nicht selbstsüchtigen Motiven“ des Helfers im Gesetz ermöglicht. Seither haben die Gerichte durch ihre breite Auslegung eine Situation geschaffen, in der kaum noch eine Beihilfe zum assistierten Suizid nicht rechtmäßig sind. Medien berichten vom sogenannten Sterbetourismus im Nachbarland. Immer mehr Ausländer(innen), so berichtet das Schweizer Parlament, reisen auch von anderen Kontinenten an, um ihrem Leben ein Ende zu setzen. Eine besorgniserregende Tendenz, so Klesse.

Ältere Generationen sähen sich mit hohen Gesundheitskosten und abnehmender Wertschätzung konfrontiert, führt Raimund Klesse fort. Ihre Weisheit werde durch die Vorliebe zum schnellen Digitalen weniger geschätzt, und ihre Möglichkeiten zur Teilhabe in der Gesellschaft nähmen ab. Dass ältere und jüngere Generationen einer Familie häufig weit voneinander entfernt leben, verstärkt die Einsamkeit. Viele Ältere wollen den Jüngeren nicht mehr zur Last zu fallen, so der Psychiater. Gemeinsam mit der vorherrschenden gesellschaftlichen Abwertung des Alters, so sagt Klesse, sei das fatal. „Der assistierte Suizid wird immer mehr zur Möglichkeit, schwierige Situationen im Leben alter Menschen zu beseitigen, indem sie sich selbst mit fremder Hilfe aus der Gesellschaft entfernen.“ Vor allem die positive mediale Berichterstattung führe dazu, dass suizidale Gedanken nicht mehr als seelische Notlagen erkannt werden und Mediziner(innen) und Pflegende immer weniger Möglichkeiten hätten, sich gegen den Trend des assistierten Suizids zu wehren – besser geregelt, so findet Klesse, sei das in Österreich.

Christian Lagger ist Geschäftsführer des Grazer Krankenhauses der Elisabethinen und Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft der Österreichischen Ordensspitäler. Er ist einer der Menschen, der sich gegen den Trend wehrt, wie Klesse es nennt. Bereits vor Einführung des Sterbeverfügungsgesetzes machte Lagger klar, dass in den Einrichtungen der Elisabethinen kein assistierter Suizid stattfinden werde – aus grundsätzlicher christlicher Überzeugung. „Unser Fokus liegt auf der Zuwendung zu den Menschen, auf Aufklärung ihrer Nöte und Ängste“, sagt er. „Wir wissen ja, wo der Wunsch zum Suizid herkommt.“ Einsamkeit und Schmerz seien die Ursachen, die es zu verhindern gelte, so Lagger.

Das wertvolle Leben

Doch die Möglichkeit zum assistierten Suizid betrifft nicht nur ältere Menschen. Vor allem in der Behindertenrechtsbewegung ist die Straffreistellung des geplanten Lebensendes seit Jahren heftig umstritten. „Meine Behinderung äußert sich dadurch, dass ich für alle Dinge des Alltags Unterstützung brauche“, erklärt die Unternehmensberaterin und Coachin Dorothea Brożek. Wenn ihr Glas nicht korrekt vor ihr abgestellt ist, kann sie nicht trinken, erzählt sie. Wenn ihr Arm nicht korrekt hingelegt wird, kann sie ihren Rollstuhl nicht selbst lenken. „Ich bin de facto bewegungsunfähig.“ Nicht jeder möchte so leben, das weiß Brożek. „‚Bevor ich so lebe, gebe ich mir die Kugel‘ – diese Aussage habe ich mir gegenüber schon gehört.“ Doch Brożeks Leben ist nicht weniger wert als eines, das der gesellschaftlichen Norm entspricht. Um es sich zu organisieren, lebt sie mit persönlicher Assistenz. Deshalb war Brożek einer der vielen Menschen mit und ohne Behinderung, die sich vor der Gesetzesänderung im Jahr 2021 in einem offenen Brief mit Petition gegen die Straffreistellung des assistierten Suizids ausgesprochen haben. Die gesamte Diskussion führe zurück in dunkelste Zeiten, wo zwischen wertem und unwertem Leben unterschieden wurde. Seit der Einführung des österreichischen Sterbeverfügungsgesetzes hat auch eine enge Freundin von Brożek den geplanten Suizid in Anspruch genommen. „Sie war mit Behinderung und Assistenz in einer vergleichbaren Situation wie ich“, erzählt die Unternehmensberaterin. „Die strukturellen Bedingungen für persönliche Assistenz werden immer schwieriger und somit auch das tägliche Leben.“ Häufig berichten Menschen mit Behinderungen von Unterfinanzierung ihrer Unterstützungsleistungen, durch die sie in prekären, sogar lebensgefährlichen Situationen landen. Heute sagt Brożek, sie verstehe die Entscheidung ihrer Freundin.

Klaus Sachs kritisiert den ‚Spießrutenlauf‘, wenn er von der Suche nach Ärzten erzählt, die bereit sind, die vorgegebenen Aufklärungsgespräche zu führen.

„Die Suizidforschung äußert sich seit Jahrzehnten ganz klar dazu“, meint dazu der Psychiater Raimund Klesse. „Ein Mensch möchte sich eigentlich niemals das Leben nehmen. Das liegt nicht in seiner Natur.“ Vielmehr gerate er in Krisen, in Ängste und Kontrollverluste, durch die sich Suizidgedanken bilden können. Zu welchen Entscheidungen sich ein Mensch in diesen Gedanken bewegt, sei letztlich nicht außerhalb eines Beziehungszusammenhanges zu denken. Wer mit einem solchen Anliegen zu einem Arzt gehe und als Bewältigungsoption einen assistierten Suizid präsentiert bekomme, sei in Wahrheit mit verweigerter Hilfe konfrontiert, so Klesse, der auf die Theorien Viktor Frankls verweist. „Nicht nur das genießende Leben hat Sinn“, schreibt dieser im Jahr 1977. „Sondern auch das Leben behält seinen Sinn, das […] nur noch eine letzte Möglichkeit zulässt, das Leben sinnvoll zu gestalten.“ Niemals, so lautet Frankls logotherapeutischer Ansatz, komme es darauf an, was wir vom Leben noch zu erwarten haben, sondern vielmehr darauf, was das Leben noch von uns zu erwarten hat. Tatsächlich zählt das Gefühl der Sinnlosigkeit und Einsamkeit zu den häufigsten Gründen, warum sich Menschen für den assistierten Suizid entscheiden, so die Ergebnisse einer kanadischen Studie aus dem Jahr 2020.

„Bis zum Sterbeverfügungsgesetz konnten wir uns hinter dem strafrechtlichen Verbot verstecken“, sagt indes Maria Katharina Moser. Gesellschaftliche Ursachen für den Sterbewunsch eines Menschen konnten damit ausgeblendet werden. Nun ändere sich das. „Wir müssen nun hinschauen, wo wir das immer schon hätten tun müssen“, sagt die evangelische Pfarrerin und verweist auf Fragen nach der Qualität des Pflegesystems, nach Rechtsanspruch auf Hospiz- und Palliativversorgung, nach persönlicher Assistenz für Menschen mit Behinderungen – wie auch Dorothea Brożek sie in Anspruch nimmt.

Dem schließt sich auch Christian Lagger an: „Das Entscheidende ist, dass es uns gelingt, in unserer Gesellschaft wieder die Fähigkeit zur Aufmerksamkeit für die Not anderer zu schulen. Wir müssen den gesamtgesellschaftlichen Zusammenhalt stärken.“ Tatsächlich wurde mit der Einführung des Sterbeverfügungsgesetzes auch ein finanzieller Ausbau des Hospizsystems versprochen. Der Gesetzesbeschluss dazu steht. Momentan, so berichtet Lagger, werden die betreffenden Bedürfnisse in den unterschiedlichen österreichischen Institutionen erhoben.

Meinungsdifferenzen

Für Eytan Reif vom Verein „Letzte Hilfe“ ist dem assistierten Suizid nicht so einfach auszuweichen. Über 75 Prozent der Menschen, die den Wunsch nach einem assistierten Suizid äußern, sind Krebskranke, wie eine Studie des Knight Cancer Institute in Portland/Oregon aufzeigt. Inwieweit dem eine gesellschaftliche Integration der Erkrankten entgegenwirken soll, ist für ihn unklar, die Debatte rund um den assistierten Suizid sieht er hingegen geformt von konservativen Interessengruppen – und zwar entgegen der Mehrheitsmeinung. So habe eine von „Letzte Hilfe“ durchgeführte Umfrage im August 2021 ergeben, dass die Mehrheit der österreichischen Bevölkerung die Möglichkeit zum selbstbestimmten Sterben befürwortet. Andere ziehen die Methodik der Umfrage in Zweifel. Die FURCHE berichtete.

Als Klaus Sachs die Zeilen seines Schreibens beendet, ist der Suizid seiner Frau einige Wochen her. Sein Erfahrungsbericht endet mit jeder Menge unbeantworteter Fragen – ein Appell zu einem Diskurs über ein Thema, das zu besprechen noch schwerfällt.

Dieser Text erschien unter dem Titel "Dem Ende ins Auge schauen" in der Printausgabe der FURCHE Nr. 49/2022.

Sorgennummern

Hilfe bei suizidalen Gedanken

Hilfe für Personen mit Suizidgedanken sowie deren Angehörige gibt es unter suizid-praevention.gv.at sowie österreichweit bei der Telefonseelsorge unter der Nummer 142, bei Rat auf Draht unter 147 oder bei der Psychiatrischen Soforthilfe der Psychosozialen Dienste unter (01) 31330.

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