"Das Selbst verliert man nie"

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Psychotherapeut Michael Wunder über die Angst vor Hilfsbedürftigkeit, Selbstbestimmung bis zuletzt und Dement sein in Würde.

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Psychotherapeut Michael Wunder über die Angst vor Hilfsbedürftigkeit, Selbstbestimmung bis zuletzt und Dement sein in Würde.

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Kaum etwas löst so große Ängste aus wie das Thema Demenz. Bedeutet das nicht das Ende von Würde und Selbstbestimmung? Mitnichten, glaubt Michael Wunder, Mitglied des Deutschen Ethikrats sowie Leiter des Hamburger Beratungszentrums Alsterdorf für Menschen mit geistiger Behinderung.

DIE FURCHE: Herr Wunder, in den Niederlanden wird die Angst vor der eigenen Demenzerkrankung mitunter als "unerträgliches Leiden" eingestuft - und gilt damit als Erlaubnisgrund für Beihilfe zum Suizid. Wie bewerten Sie das?

Michael Wunder: Dazu muss man sagen, dass die generelle Einbeziehung von Demenzkranken in den Niederlanden überwiegend kritisch gesehen wird und man auch eine Einzelfallprüfung vornimmt. Trotzdem wird hier eine rote Linie überschritten, weil das ein Anspruchsdenken und einen Ketteneffekt auslösen könnte, bei dem auch andere sagen: Ach bitte, für mich auch! Außerdem ist Demenz für mich kein so angstauslösender Zustand, der ein Grund wäre, mir das Leben zu nehmen.

DIE FURCHE: Was dämpft Ihre Angst?

Wunder: Ich habe zwei Schwiegermütter mit Demenz bis zu ihrem Tod erlebt. Es war in beiden Fällen sicher nicht leicht, aber auch nicht so, dass die ganzen Jahre von Todessehnsüchten und Nervenzusammenbrüchen gekennzeichnet waren.

DIE FURCHE: Demenz ist für viele aber der Inbegriff von Würdelosigkeit ...

Wunder: Diese Entwicklung macht mir Sorgen. Früher waren es die Angst vor Schmerzen oder die Aussicht, im Krankenhaus zwischen Kachelwänden zu sterben, die den Wunsch nach "Sterbehilfe" vorangetrieben haben. Jetzt, wo diese Zustände durch viele Anstrengungen und die Leistungen der Palliativmedizin gottlob sehr an den Rand gedrängt wurden, kommt das neue, moderne Ultra-Argument: Die Angst, auf andere angewiesen zu sein. Aber wie kann ich Angst davor haben, Hilfe annehmen zu müssen?

DIE FURCHE: Hilfe anzunehmen ist das eine, das Gefühl, nicht mehr man selbst zu sein, etwas Anderes

Wunder: Dieser Angst liegt ein Denkfehler zugrunde. Man kann Angst davor haben, seine Selbstbestimmung zu verlieren, wobei es diese Selbstbestimmungsmöglichkeit meiner Ansicht nach in allen Graduierungen gibt: Auch in der dritten, letzten Phase können Betroffene immer noch in eingeschränkter Weise selber bestimmen und etwa durch Mimik oder Gestik affektgeleitete Ja-Nein-Entscheidungen ausdrücken ...

DIE FURCHE: Wobei ihr Umfeld die nötige Zeit und Wertschätzung aufbringen muss, diese Zeichen auch wahrzunehmen ...

Wunder: Natürlich, es braucht ein validierendes, unterstützendes Umfeld. Doch eine gewisse Selbstbestimmung ist immer möglich. Das Selbst an sich verlieren können Sie aber nie, das Selbst ist Ihr Innerstes, Ihre Biografie, der Kern Ihrer Persönlichkeit. Es ist ein Irrglaube, dass man zum Zellhaufen degeneriert, der keinen Geist hat. Ich will Demenz nicht herunterspielen, es ist ein Drama, besonders für geistig hochstehende Leute. Aber nehmen Sie das berühmte Beispiel des 2013 verstorbenen Walter Jens, der berühmte Reden geschrieben hat. Er hat in seiner Patientenverfügung geschrieben, dass er nicht als Trottel durch Tübingen laufen wolle. Doch nachdem er selbst an Demenz erkrankt war, hatte er plötzlich Spaß daran, durch Tübingen zu laufen, Vogelgezwitscher zu hören und wieder Spinat und Spiegelei wie in seiner Kindheit zu essen. Er ist das beste Beispiel dafür, dass sich die Persönlichkeit stets neu aktualisiert.

DIE FURCHE: Sie sprechen von "Dement sein in Würde". Aber was braucht es, dass auch die Angehörigen diese Situation gut und "in Würde" durchstehen können?

Wunder: Sie brauchen dringend Entlastung, etwa durch Tageszentren oder andere Dienste, die es ihnen ermöglichen, regelmäßig etwas Zeit für sich zu haben. Dieses 24-Stunden-Daseinmüssen hält ja niemand lange Zeit aus. Wenn diese Angebote erreichbar sind, kann man auch über Fortbildung als Unterstützungen reden, damit Angehörige erfahren: Wie sind die Symptome meines Mannes oder meiner Mutter zu deuten? Auch Peer-Beratung, bei der sich Demenzangehörige austauschen können, sind wichtig.

DIE FURCHE: Wie haben Sie selbst die damalige Pflegeaufgabe organisiert?

Wunder: Es war auch bei uns eine unglaubliche Belastungssituation. Ohne einen Pflegedienst im Haus, nachbarschaftliches Engagement und das Angebot einer Tagesstätte hätten wir das nicht geschafft.

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