Die Angst vor dem VERGESSEN-SEIN

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Wie leben Menschen mit Demenz und ihre pflegenden Angehörigen in Österreich? Über einen Zustand, der immer mehr betreffen wird.

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Wie leben Menschen mit Demenz und ihre pflegenden Angehörigen in Österreich? Über einen Zustand, der immer mehr betreffen wird.

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Dass mit seiner Frau etwas nicht stimmte, merkte Alois Krenn an einem kleinen Stück Papier. Wie so oft hatte sich Isolde Krenn mit Freundinnen im Café Bruckmüller an der Linzer Mozartkreuzung getroffen und war allein mit der Straßenbahn heimgefahren. Doch diesmal hatte sie den Fahrschein nicht entwertet. Die ehemalige Sekretärin, die wie ihr Mann leidenschaftlich gern Galerien und Museen besuchte, war am Automaten gescheitert.

Bald mehrten sich bei Isolde Krenn die Ausfallszeichen, zugleich wuchs ihre Ablehnung von Ärzten. Erst etwa zwei Jahre später, 2008, gelang es der Tochter, ihre damals 66-jährige Mutter zu einer neurologischen Untersuchung zu bewegen. Sie sollte dramatisch verlaufen. "Falsch! Falsch! Schon wieder falsch!" konstatierte der Arzt. 13 von 30 Test-Punkte erhielt Isolde Krenn, nur drei Punkte mehr als Menschen mit Demenz in der dritten, schwersten Phase.

Geschätzte 100.000 bis 130.000 Menschen sind in Österreich demenzkrank. Valide Zahlen fehlen, zu groß ist häufig die Angst vor einer Diagnose - wie damals bei Isolde Krenn. Ihre eigene lautete "Morbus Pick", eine seltene Demenz-Form, bei der das Gewebe am Stirn- oder Schläfenlappen schwindet. 15 bis 25 Prozent der Demenzbetroffenen leiden an vaskulärer Demenz, bei der das Hirngewebe wegen Durchblutungsstörungen allmählich zerstört wird. 55 bis 75 Prozent schließlich sind von Alzheimer-Demenz betroffen; hier bilden sich im Gehirn harte Ablagerungen ("Plaques").

"Ob diese hirnphysiologischen Veränderungen tatsächlich als Krankheit zu verstehen sind oder einfach nur als Phänomene des Alterns, darüber besteht kein Konsens", erklärte der deutsche Gerontologe Christian Rester kürzlich bei der Vierten Internationalen Hartheim Konferenz zum Thema "Demenz als ethische und sozialpolitische Herausforderung". Tatsache ist, dass sich das Demenz-Risiko im Alter alle fünf Jahre verdoppelt: 65-Jährige haben demnach ein 2,5-prozentiges Risiko, mit 70 Jahren liegt es bei fünf Prozent, mit 85 Jahren bereits bei 36 Prozent. Angesichts des demografische Wandels rechnen die Experten bis 2030 mit 250.000 Betroffenen in Österreich - also einer Verdoppelung.

Ein gesunder Lebensstil, geistige sowie soziale Aktivitäten können präventiv wirken, weiß der Innsbrucker Psychiater Hartmann Hinterhuber. Ein Medikament, das den fortschreitenden, zellulären Untergang zu stoppen vermag, ist aber nicht in Sicht. Auch der Ausbau entsprechender Versorgungsstrukturen lässt in Österreich auf sich warten. Etwa 80 Prozent der Demenzkranken werden nach wie vor von (überwiegend weiblichen) Angehörigen betreut, die sich wiederum vielfach überlastet und vergessen fühlen. Zwar gibt es zahlreiche Initiativen, etwa das Projekt "Demenz weiter denken" der Caritas Socialis (siehe oben). Aber der angekündigte "Nationale Aktionsplan gegen Demenz" wurde zuletzt um ein weiteres Jahr verschoben.

Das alles macht Angst. Umso mehr, als Demenz für viele nicht nur Pflegebedürftigkeit oder einen Persönlichkeitswandel, sondern den Verlust des Ichs und der Würde bedeutet. Dazu müssen die Defizite noch gar nicht groß sein. Er habe erkannt, dass er "an der ausweglosen Krankheit A." erkrankt sei, schrieb etwa der 78-jährige Gunter Sachs 2011, bevor er sich erschoss. Die rapide Verschlechterung seines Gedächtnisses und seines Sprachschatzes würden zu "gelegentlichen Verzögerungen in Konversationen" führen. "Jene Bedrohung galt mir schon immer als einziges Kriterium, meinem Leben ein Ende zu setzen."

Präventiver Suizid?

In den Niederlanden wurde die Angst vor der eigenen Demenzerkrankung bereits als "unerträgliches Leiden" anerkannt - und damit ein hinreichender Grund, Suizidbeihilfe beanspruchen zu dürfen (s. Interview). Auch der Verein "Sterbehilfe Deutschland" hat in einigen Fällen beginnender Demenz Suizidbegleitung geleistet. Eine Entwicklung, die der Psychiater Gerrit Hohendorf von der Technischen Universität München äußerst kritisch sieht. "Bei Menschen mit fortgeschrittener Demenz gibt es an sich eine erstaunlich geringe Suizidalität", erklärt Hohendorf. "Problematisch wird es aber, wenn man die Diagnose sehr früh stellt und das öffentlich transportierte Bild eines schrecklichen, grausamen Endes und des Verlusts der Persönlichkeit so präsent ist, dass die assistierte Selbsttötung als einzige Option übrig bleibt." In den USA würden solche Frühdiagnostiken - etwa durch Nachweis bestimmter Proteine im Nervenwasser - mittlerweile gefordert, damit sich Menschen rechtzeitig für den eigenen Tod entscheiden könnten.

In Österreich sieht die Lage anders aus. Hier werden Diagnosen häufig allzu spät gestellt: Frühzeitiges Gedächtnistraining sowie Ergo-, Tier- oder Musiktherapie könnten den Krankheitsverlauf deutlich bremsen. Zudem ist nicht jede Vergesslichkeit die Folge einer Demenzerkrankung: Sie kann auch auf eine Depression, Flüssigkeits- oder Vitaminmangel zurückzuführen und leicht zu behandeln sein. Monika Natlacen von der Selbsthilfegruppe "Alzheimer Austria" empfiehlt deshalb Angehörigen, im Verdachtsfall zu einer Diagnose zu motivieren. "Es gibt natürlich das Recht, keine Diagnose zu bekommen. Aber manchmal ist sie eine Erleichterung: Jetzt hat das Ding endlich einen Namen!"

Alois Krenn ist damals in ein tiefes Loch gestürzt. "Aber dann habe ich mir selbst gesagt: Meine Aufgabe in der Pension ist es nun, meiner geliebten Isolde dazu zu verhelfen, dass sie noch schöne Zeiten hat". Er besorgte sich Literatur, besuchte Kurse - und stieß doch bald an seine Grenzen. "Die schrecklichste Zeit war die mittelschwere Demenz-Phase", erzählte der heute 73-Jährige in Schloss Hartheim. "Meine Frau ist auf mich losgegangen, weggelaufen, dann wieder zu mir gekommen und hat gesagt: Alois, da ist ein Mann, der sekkiert mich bis aufs Blut, kannst mir nicht helfen?" Als seine Frau auch eine Pflegerin attackierte, wurde sie in die Landesnervenklinik Wagner-Jauregg gebracht. Die Medikamente, die ihr dort verschrieben wurden, ließen die Aggressionen verschwinden. "Seitdem ist sie pflegeleicht", sagt Alois Krenn, der gemeinsam mit seiner Frau im Buch "Ich bin, wer ich war" porträtiert wurde (s. Tipp).

Alleingelassene Helfer

Was genau auf ihn zukommt - und wo er sich Unterstützung holen kann - hätte man dem Juristen schon bei der Diagnose sagen können. Doch alles, was er damals zu hören bekam, war: "Schwere Zeiten stehen Ihnen bevor!" Bis heute werden pflegende Angehörige häufig allein gelassen: "Sie sorgen dafür, dass ein Leben zuhause überhaupt möglich ist - ohne Rücksicht auf ihre eigenen Wünsche und ihre Gesundheit", weiß Monika Natlacen von "Alzheimer Austria". Die Folgen sind häufig soziale Isolation, körperliche Erkrankungen oder Depressionen.

Auch Alois Krenn ist krank geworden: Er wurde mit Herzproblemen ins Spital gebracht - samt der Sorge im Gepäck, wer sich um seine Frau kümmern sollte. Zum Glück bekam sie einen Platz in der Kurzzeitpflege eines Heimes. Um sie wieder nach Hause nehmen zu können, nahm Krenn das Angebot eines Linzer Tageszentrums der Volkshilfe in Anspruch. Jeden Donnerstag ist Isolde Krenn seither dort so gut versorgt, dass ihr Mann zum Friseur, spazieren gehen oder Behördenwege erledigen kann. Seine zwei erwachsenen Kinder, die beide berufstätig sind, schenken ihm zusätzlich "freie Tage", die er für Fahrten nach Wien ins Belvedere nutzt. Eine Altenfachbetreuerin kommt täglich und erledigt die Körperpflege. Unterstützungen, die er sich mit dem Pflegegeld für die Stufe 5 (902,30 Euro pro Monat) - und eigenen Zuschüssen - gerade leisten kann.

Was also brauchen Menschen mit Demenz und ihre pflegenden Angehörigen? Monika Natlacen fordert bedürfnisgerechte Angebote - auch in ländlichen Regionen. "Letztlich geht es aber darum, von der defizitorientierten Sichtweise auf Demenz wegzukommen. Wir sollten Menschen, die diese Diagnose bekommen, bei einem selbstbestimmten Leben unterstützen und ihnen Perspektiven eröffnen, wie sie mit dem Vergessen leben können." Demenz sagt sie, gehöre zum Leben.

Für die Angehörigen ist es wiederum wichtig zu hören, dass ihre Tätigkeit "sehr schwer, aber auch sehr wertvoll ist", ergänzt Alois Krenn. Er selbst hofft, gesund zu bleiben, um seine Isolde auch weiterhin betreuen zu können. Zu ihm gesprochen hat sie schon länger nicht, aber wenn er ihr sagt "Horch, da zwitschert ein Vogerl!", dann schenkt sie ihm einen vertrauensvollen Blick. Es sind Glücksmomente wie diese, die ihn tragen.

Ich bin, wer ich war

Mit Demenz leben. Von Erich Fenninger/Volkshilfe (Hg.), Residenz Verlag 2014.287 Seiten, geb., € 21,90

Alzheimer

Von Wenzel Müller und Peter Dal-Bianco/Verein für Konsumenteninformation (Hg.),. VKI 2014.240 Seiten, € 19,60. Infos unter www.konsument.at

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