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Der Ruhestand als Risiko, das Alter als Chance

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Die Lebensphase „Alter“ bedeutet mehr als Degeneration. Über den Versuch, ein positiveres Bild des menschlichen Reifens zu zeichnen.

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Die Lebensphase „Alter“ bedeutet mehr als Degeneration. Über den Versuch, ein positiveres Bild des menschlichen Reifens zu zeichnen.

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Über Menschen, die nicht mehr jung sind, gibt es im öffentlichen Diskurs zwei große Erzählungen. Die eine klingt zugespitzt so: Alt sein heißt pflegebedürftig sein – und was uns hier individuell und gesellschaftlich dräut, ist eine einzige Katastrophe. Nimmt man die kursierenden Zahlen zur Hand, dann kommt dieses Narrativ nicht von ungefähr: Rund 400.000 Menschen sind in Österreich­ über 80 Jahre alt, 130.000 leben mit demenziellen Beeinträchtigungen. Bis 2050 wird mit einem Bedarf von 80.000 zusätzlichen Pflegekräften gerechnet, doch das Interesse daran ist aus vielerlei Gründen gering. Erst im vergangenen Dezember hat die mittlerweile aus dem Amt geschiedene Regierung einen „Masterplan Pflege“ präsentiert, aber nun liegt wieder alles auf Eis. Ob gesundes Altern und Pflege ein Wahlkampfthema wird, bleibt abzuwarten.
Die zweite aktuelle Erzählung ist nicht wesentlich erfreulicher: Die Alten sind schuld daran, dass das Klima kippt – und die Jungen, deren Zukunft mit fossilen ­Energieträgern verheizt wurde, sagen ihnen deshalb den Kampf an. Auch diese Erzählung ist plausibel, und die von Greta Thunberg initiierten „Fridays For Future“-Demonstrationen mit ihrer berechtigten Wut auf intergenerationelle Ungerechtigkeit und politisches Nichtstun geben diesem Narrativ ungeahnte Wucht.

„Abfackeln der Alten“

Die kanadische Schriftstellerin Margaret Atwood, weithin bekannt geworden durch die Verfilmung ihres dystopischen Romans „The Handmaidʼs Tale – Der Report der Magd“, hat die zunehmende Entfremdung zwischen Jung und Alt in einer beklemmenden Kurzgeschichte ins Apokalyptische fortgeschrieben: „Torching the Dusties“ (Abfackeln der Alten) heißt die Erzählung, die als Schlussgeschichte ihres 2014 veröffentlichten Sammelbandes „Stone Mattress“ erschienen ist. Ein global operierender Mob mit Babymasken belagert darin ein Altenheim namens „Ambrosia Manor“ und macht sich daran, das Gebäude mitsamt seiner Bewohnerinnen und Bewohner in Brand zu setzen. „Time to Go, Fast not Slow. Burn Baby Burn. Itʼs our Turn“, johlen sie dabei. Nur zwei Bewohnern gelingt die Flucht aus dem Inferno.
Die Frage der sozialen (Un-)Gerechtigkeit zwischen Alt und Jung ist der zentrale Aspekt, den Atwood in den Blick nimmt. Der andere ist die Lebenswelt Heim an sich – eine Welt, die Atwood als so eintönig beschreibt, dass manche selbst den unmittelbar bevorstehenden Angriff eines Mobs als willkommene Abwechslung empfinden.
So viel zu den dunklen, abgründigen Bildern der „Lebensphase Alter“, die in abgeschwächter Form den aktuellen Diskurs prägen. Verständlich, dass sich dagegen zunehmend Widerstand regt. Ein Beispiel für dieses Ringen um positive, ressourcen- statt defizitorientierte Altersbilder jenseits der Kukident-, Hörgeräte- und Inkontinenzproduktewerbung war die Denkwerkstatt St. Lambrecht, die sich unter der Leitung des Sozial- und Arbeitsrechtlers sowie FURCHE-Kolumnisten Wolfgang Mazal mit den Potenzialen dieser Lebensphase beschäftigt hat (vgl. das Interview mit WIFO-Chef Christoph Badelt in FURCHE Nr. 21). In den kommenden Jahren, so Mazal, entstehe in der Generation der über 65-Jährigen ein „irres Potenzial“ von 750.000 Menschen mehr, die als künftige Pensionisten über freie Kapazitäten verfügen würden. Um diese Potenziale zu nutzen, plädiert Mazal für „lebensphasen­orientierte Arbeitszeitmodelle“ und mehr Kooperation zwischen Alt und Jung. Mit der Pensionierung, so sein Befund, gehe jedenfalls allzu oft das Potenzial der Alten – Stichwort Erfahrung – verloren.

Pensionierung als Problem

Auch der Soziologe und Gerontologe Franz Kolland von der Universität Wien sieht das Konzept „Ruhestand“ als Herausforderung. „Als Gerontologe bin ich überhaupt nicht glücklich darüber, dass wir eine Pensionsversicherung haben, weil mit der Pension eine Zäsur im Leben geschaffen wurde“, meinte er kürzlich im Rahmen eines „Science Talks“ zum Thema „Lebensphase ,Alter‘„ bewusst provokant. „Die einen haben einen guten Status in der Gesellschaft, die anderen, die außerhalb der Erwerbstätigkeit sind und die wir als alt bezeichnen, nicht.“ Auch gelte die Pensionierung als klassisches Kriterium dafür, überhaupt von „Alter“ zu sprechen, obwohl sich die Betroffenen meist subjektiv gar nicht alt fühlen würden. Sechs bis acht Jahre: So weit klaffen nach soziologischen Untersuchungen das gefühlte und das kalendarische Alter im Durchschnitt auseinander.
Doch was bedeutet „Alter“ überhaupt? Laut Katharina Pils, Präsidentin der Österreichischen Gesellschaft für Geriatrie und Gerontologie, handelt es sich jedenfalls um einen schwierigen Begriff – nicht nur, weil darunter sehr vielfältige soziale und gesundheitliche Zustände beschrieben werden, sondern auch, weil die Lebensspanne „Alter“ ständig größer wird. Längst wird deshalb von einem dritten und vierten Lebensalter gesprochen: das dritte als jene Phase, in der man Pension bezieht, aber aktiv ist, am gesellschaftlichen Leben (oft ehrenamtlich) teilnimmt und Beziehungen pflegt; und das vierte, in dem Menschen tatsächlich fragiler, verletzlicher werden und (bei möglichst langer Selbstbestimmung) auf die Unterstützung anderer angewiesen sind. Diese letzte Phase (derzeit dauert sie laut Pils in Österreich durchschnittlich 1,5 Jahre) so kurz wie möglich zu halten und im Sinne einer „compression of morbidity“ so lange wie möglich gesund zu bleiben – das sei das große Ziel.

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