"Ich bin dement. Na und?“

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Bei den ersten Symptomen dachte die Dolmetscherin Helga Rohra noch an Erschöpfung, doch nach langem Warten wurde es Gewissheit: Lewy-Body-Demenz. Über Rohras Engagement für die Rechte Betroffener - und ihren Versuch, dem Leben neuen Sinn zu geben.

Diese Frau kann reden. Das Auditorium hängt an ihren Lippen, als Helga Rohra mit warmer, dunkler Stimme und rollendem "R“ ihre Geschichte erzählt. "Wir möchten eine ganz normale Begegnung auf Augenhöhe“, erklärt die gebürtige Siebenbürgerin vorn am Podium und lugt über ihre Lesebrille hinweg in den gut gefüllten Saal. "Wir sind genauso wertvoll. Bitte weisen Sie nicht immer darauf hin, was wir nicht mehr können. Freuen Sie sich lieber über das, was wir können.“

Eigentlich ist die Wahlmünchnerin nach St. Pölten ins Bildungshaus St. Hippolyt gekommen, um im Rahmen der Tagung "Kostbares Alter“ - veranstaltet von der ARGE Altenpastoral der österreichischen Diözesen und der Diözese Bozen-Brixen - darüber zu diskutieren, wie sie ihr Alter erlebt. Doch mit ihrem Statement sprengt die 58-Jährige alle Kategorien. Vor allem aber konterkariert sie als Frühbetroffene das medial verbreitete Bild von Demenzpatienten, nämlich desorientiert, hilflos und jenseits der 80 zu sein. "Demenz wird eben immer von ihrem Ende her gedacht“, ist sie überzeugt.

Geschätzte 9,9 Millionen Menschen leiden europaweit an Demenzerkrankungen. Doch die Dunkelziffer liegt viel höher. Die meisten Betroffenen leben mehr oder weniger unauffällig, viele wissen noch nichts von der eigenen Erkrankung oder bringen die Symptome mit anderen Problemen in Verbindung. So wie Helga Rohra anfangs auch.

Der lange Weg zur Diagnose

Es ist im Sommer 2008, als die damals 55-jährige alleinerziehende Mutter eines Sohnes merkt, dass etwas mit ihr nicht stimmt. Gerade eben hat sie als freiberufliche Dolmetscherin mit Schwerpunkt Medizin und Naturwissenschaften auf einem großen Multiple-Sklerose-Kongress übersetzt, als sie einen Anruf für einen Folgeauftrag erhält. Doch Rohra kann sich plötzlich kaum mehr erinnern, worum es auf der Tagung ging. Den Aussetzer führt sie auf ihre Erschöpfung zurück. Doch später wird sie auch noch von Desorientierung geplagt: Vom Keller des Hochhauses, in dem sie lebt, findet sie nicht mehr in ihre Wohnung zurück; und in der U-Bahn schafft sie es nicht mehr nach oben. "Da habe ich gedacht: Jetzt hast du einen Tumor“, erinnert sie sich.

Der Neurologe, den sie konsultiert, glaubt freilich eher an ein Burnout und rät zu einer Auszeit. Rohra beginnt, ihre Ausfälle zu dokumentieren, ihre Wortfindungsstörungen und Halluzinationen zu beschreiben. Als sie sich einmal die Zähne putzen will, sieht sie sich selbst im Waschbecken umherrennen. Bald läuft alle paar Stunden vor ihren Augen ein solcher Stummfilm ab.

Die Ursache dafür erfährt sie freilich erst im Frühjahr 2009, nachdem sie sich einen Untersuchungstermin an der Münchener Uniklinik erkämpft hat: Lewy-Body-Demenz, die zweithäufigste Form der Demenz, die stets mit einer Parkinsonerkrankung gekoppelt ist. "Wenn der Arzt so etwas sagt, da hält man sich schon an seinem Sessel fest“, erzählt Helga Rohra. "Und dann schleppt man sich nur noch heim und betet.“

Ihrem Sohn erzählt sie einstweilen nichts davon. Dafür beginnt ihr Kampf ums Überleben: Sie stellt einen Antrag auf Arbeitslosengeld II, besser bekannt als Hartz IV. Und sie kontaktiert die Alzheimer Gesellschaft. "Zuerst habe ich mir gedacht, was soll ich denen sagen? Ich heiße Rohra und bin jetzt dement?“ erzählt die drahtige Frau. "Doch dann habe ich einfach gesagt: ‚Ich glaube, ich gehöre jetzt zu Ihnen.‘“

Bis heute fühlt sie sich den Demenzkranken weltweit verbunden. "Wir nennen uns alle Brothers und Sisters, wenn wir einander E-Mails schreiben“, erzählt Rohra. Der Name ihrer Selbsthilfegruppe "Demenz mitten im Leben“ ist für sie Programm: Sie pflegt selbst noch eine 99-jährige Dame, gibt Kindern Nachhilfeunterricht, lässt sich von ihrem 23-jährigen Sohn über den Inhalt der Tageszeitungen prüfen und hält bis zu 20 Vorträge im Jahr. Anfang Oktober wird sie beim Kongress von "Alzheimer’s Disease International“ in London als erste Betroffene den Eröffnungsvortrag halten. Ohne persönliche Begleitung wäre dies unmöglich, schließlich verliert sie selbst immer mehr das Zeitgefühl. Auch ihr Buch "Aus dem Schatten treten“ (s. u.) hätte sie ohne Unterstützung nicht mehr geschafft. "Eine Demenz ist nicht das Ende!“ erklärt sie darin. "Auch mit einer Demenz können Sie ein erfülltes Leben haben, wenn Sie sich mit der Behinderung arrangieren.“

Umso mehr kämpft Helga Rohra als "Demenzaktivistin“ für die Rechte Betroffener. Sie fordert ihre Einbeziehung bei der Planung neuer Wohnformen, wünscht sich eine differenziertere mediale Berichterstattung und fordert die Anerkennung von Demenz als nicht sichtbare Behinderung - samt entsprechendem Ausweis. Ihr provokantes Motto: "Ich bin dement. Na und?“

Doch was dann? Drei, vier Jahre hat Helga Rohra laut Prognosen noch vor sich. In einer Patientenverfügung hat sie ihrem Sohn die Auswahl einer geeigneten, tierliebenden Wohneinrichtung übertragen, falls sie allein nicht mehr zurecht kommt. Bis dahin - und erst recht danach - hofft sie auf ein Leben in Würde, getragen von Rücksicht und Warmherzigkeit: "Ich sehe mich heute als Dolmetscherin der Gefühle und Gedanken, die uns bewegen“, erklärt die dynamische Frau auf dem Podium. "Auch wenn die Sprache nicht mehr da ist - die Gefühle sind noch da. Und das ist der Schlüssel zu unserer Welt.“

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