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Im Sterben nicht allein

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Immer mehr Menschen sterben nach langem, schwerem Leiden. Wer betreut sie? Die Kleinfamilie ist oft überfordert. Im folgenden ein Bericht über ein Betreuungsmodell.

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Immer mehr Menschen sterben nach langem, schwerem Leiden. Wer betreut sie? Die Kleinfamilie ist oft überfordert. Im folgenden ein Bericht über ein Betreuungsmodell.

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Seit mehr als 70 Jahren gibt es in Großbritannien die sogenannten Sterbekliniken. Die sinnvollere Bezeichnung wäre Hospiz, dessen Aufgabe es ist, unheilbar kranke Menschen, die an Krebs, multi-pler Sklerose, Tumoren oder ähnlichen Erscheinungen leiden, zu pflegen und ihnen einen schmerzfreien, menschlichen Tod zu ermöglichen.

Bei diesen Einrichtungen handelt es sich in keiner Weise um

Kliniken, in die Sterbende und Todkranke abgeschoben werden, sondern um sanatoriumsähnliche Pflegeheime. Sie verfügen meist über nicht mehr als 40 Betten und erwecken von der Atmosphäre her eher den Eindruck eines privaten Heimes als den eines Krankenhauses.

Bei den Patienten handelt es sich um Menschen, die sich in der Endphase ihrer Krankheit befinden und für die zwar rein medizinisch nicht mehr viel getan werden kann, dafür aber umso mehr an menschlich-seelischer Betreuung. Meist sind es Menschen, die alleinstehend sind oder solche, bei denen die Angehörigen nicht in der Lage sind, den Kranken entsprechend zu pflegen.

Die Mitarbeiter eines jeden Hospizes sind davon überzeugt, daß es bei den meisten Patienten das beste wäre, wenn sie im Kreise ihrer Familie im eigenen Heim sterben könnten, dort, wo sie auch ihr Leben verbracht haben. Wo dies möglich ist, unterstützen sie die Familien, indem eine Schwester ins Haus kommt und die Angehörigen in der Pflege anleitet. In der Folge wird dann die Gemeindeschwester regelmäßig zum Patienten kommen, um ihn medizinisch zu versorgen.

Für viele aber wird das Hospiz ihr letztes Zuhause, in dem sie sich von den Mühen, den leidvollen Erfahrungen ihres Lebens und ihrer Krankheit erholen, wo sie sich auf den^Tod, die „Reise in eine andere Dimension“ vorbereiten können.

Wer in ein Hospiz kommt, seien es die Kranken selbst, ihre Angehörigen oder Freunde, verliert einen Teil seiner Angst vor dem Tod, die ja eigentlich mehr eine Angst vor dem Sterben ist. Er erlebt nämlich, wie friedlich und natürlich das Sterben sein kann. Denn kein Sterbender wird allein gelassen oder Schmerzen ausgesetzt.

Die Schwestern und die Mitarbeiter des Hospizes versuchen, die Verwandten soweit wie möglich darin zu bestärken, den Sterbenden in seinen letzten Stunden und Tagen zu begleiten und bei ihm zu bleiben.

Das Verhältnis von drei Patienten für jeweils zwei Schwestern läßt diesen die Zeit, die sie brauchen, um sich intensiv um jeden einzelnen zu kümmern. Die Schwestern haben Zeit, sich ans Bett des Patienten zu setzen, ihm zuzuhören, mit ihm Tee zu trinken, einfach da zu sein. Sie bleiben vor allem dann beim Patienten, wenn er nicht mehr ansprechbar ist. Die Sinne und die Gefühle sind auch dann noch funktionsfähig, wenn keine Reaktion mehr erkennbar ist.

Gerade in diesem Stadium bedürfen die Menschen eines anderen, der ihre Hand hält, ihnen die Stirn trocknet, die Lippen befeuchtet und für sie ein Gebet spricht. Es ist ein Grundprinzip des Hospizes, die Patienten nicht allein sterben zu lassen.

In so manchen Stunden, in denen ich am Bettrand eines Patienten saß, mit ihm sprach oder auch „nur“ die Hand hielt und leicht massierte, tauchten in mir Gedanken über mein eigenes Sterben und über meinen Tod auf.

Wohl jeder, der sich solchen Gedanken stellt, wird erfahren, wie dabei auch die eigene Angst vor dem Tod schwindet. Man wird fähig, offen mit anderen über das Sterben zu sprechen.

Solche Gespräche, die sich oft zwischen Schwestern und Patienten oder den Angehörigen ergeben, helfen, die Furcht vor dem

Tod zu lindern. Die Patienten lernen ihren Tod zu akzeptieren und in ruhiger, gelassener, manchmal sogar freudiger Art zu erwarten.

Eine etwa sechzigjährige Frau, die an Krebs litt, sagte mir einmal im Laufe eines Gesprächs: „Weißt Du, daß auch Du sterben wirst? Ich weiß, daß ich in den nächsten Tagen sterben werde, doch bis dahin möchte ich noch etwas Freude erleben!“ Diese Einstellung zeugt von einer großen Reife und macht es den Angehörigen oft noch schwerer, ihren Vater, ihre Mutter gehen zu lassen. Oft ist es für sie schwieriger als für den Betroffenen selbst, Abschied zu nehmen.

Priester stellen sich für die Seelsorge an den Patienten genauso zur Verfügung wie für die Sorge um die Angehörigen, die ihre Trauer oft nur schwer bewältigen können. Monatlich gibt es sogar die Gelegenheit an einem Gruppenabend mit Schwestern, dem Kaplan, Sozialarbeitern oder Ärzten teilzunehmen. Da kann jeder kommen, der mit seiner Trauer nicht fertig wird. Im Gespräch findet er Verständnis und erfährt Linderung durch die Erkenntnis, daß er in seiner Trauer nicht allein ist.

Jeder Mensch stirbt seinen eigenen Tod und er hat ein Recht auf Berücksichtigung dieses Anspruchs. Das Hospiz trägt dem Rechnung. Sterben kann hier gar nicht zur Routine werden, denn jeder Patient, jeder Mensch, der hier gepflegt und betreut wird, ist einmalig, er ist nicht der Fall mit dem Lungenkarzinom, sondern eben Paul W., mit seiner eigenen Lebensgeschichte und Erfahrung.

... An der Hand eines Menschen sterben—ist ein Satz, der im Hospiz zur Realität wird.

Der Autor ist Sozialarbeiter in Bregenz. Er verbrachte mehrere Wochen im St. Ann’s Hospice in Manchester.

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