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Der Schrecken des Todes

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Der Verlust eines geliebten Menschen ist sehr schmerzvoll. Die Phase des Verstehens der Endgültigkeit gehört zur schwersten Zeit unseres Lebens.

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Der Verlust eines geliebten Menschen ist sehr schmerzvoll. Die Phase des Verstehens der Endgültigkeit gehört zur schwersten Zeit unseres Lebens.

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Die Phasen der Trauer sind für jemanden, der nie persönlich mit dem Tod eines geliebten Menschen konfrontiert wurde, schwer nachzuvollziehen. Je plötzlicher und unerwarteter diese Person stirbt, umso größer ist der Schock in ihrer Umgebung. Auch ein Mensch, der unheilbar erkrankt, ruft einen schockähnlichen Zustand bei seinen Angehörigen hervor; bei seinem Tod ist der Schrecken trotz allem noch einmal genauso heftig.

Das ist das Traurige: der Tod eines (geliebten) Menschen erscheint eigentlich immer zu früh, gleichgültig in welchem Lebensalter oder Krankheitsstadium er diese Welt verlassen muß. Dies zu bedenken ist ganz wichtig, wenn man meint, einem Trauernden Mut zusprechen zu wollen. Ein lieber Händedruck, eine Umarmung, ein kurzer Brief oder ein paar Worte am Telefon sind unendlich wertvoll und ausreichend. Wichtig ist auch die Bereitschaft, Hilfe anzubieten für den Fall, daß der Betroffene reden möchte oder irgend etwas benötigt. Es ist schwierig mit Trauernden umzugehen.

Ich erinnere mich sehr eindrücklich an das Totenbett meiner Schwester in ihrem Zimmer - in der Wohnung meiner Eltern, in der wir 20 Jahre gemeinsam gelebt hatten. Als ich in jener Nacht zu ihr blickte, bevor ich aus dem Zimmer ging, wußte ich, daß es das letzte Mal sein würde. Ein schmerzlicher Abschied. Als dann am nächsten Morgen ihr Tod bestätigt wurde, war es, als würde mich ein dunkler Schleier umgeben. Alles, was ich tat und sagte, war ohne Regung, beinahe, als bestünde keinerlei Verbindung zwischen Herz und Verstand. Andererseits kam mir alles Tun, sogar jeder Gegenstand, so unsinnig, so irreal vor.

In der ersten Zeit nach dem Tod steht der Schock: das Geschehen muß erst als real verstanden werden. Nach und nach wird einem bewußt: dieser I .ebensabschnitt ist unwiederbringlich vorbei. Man kann dem geliebten Menschen nichts mehr sagen, auch nichts mehr Gutes tun. Gerade letzteres bewirkt oft pompöse Begräbnisfeierlichkeiten - es ist das Letzte, was man meint, für den Verstorbenen tun zu können.

Das Abschiedsfest

Der Begräbnisritus ist für die Hinterbliebenen therapeutisch betrachtet von großer Bedeutung: als Angehöriger möchte man seine Liebe zu dem Verstorbenen in diesem Abschiedsfest Ausdruck verleihen. Manche Menschen -können ihre Trauer in Tränen kleiden — meist aber erst in der zweiten Phase, nach dem Begräbnis. Wie oft hört man von „tapferen Witwen”, die nicht eine Träne am Friedhof vergossen haben ... Manchmal kommt auch der Vorwurf, daß die Angehörigen scheinbar zu wenig getrauert haben. Doch die meisten Tränen werden nicht bei Begräbnissen geweint, sondern im stillen Kämmerlein, gerade auch deswegen, weil das Begräbnis oft schon wenige Tage nach dem Tod stattfindet, und die Hinterbliebenen mit allen möglichen Amtswegen beschäftigt waren und zudem noch unter Schock stehen ...

Die Phase des Verstehens der Endgültigkeit ist eine sehr schwere Zeit. Versäumnisse dem Verstorbenen gegenüber kommen in die Gedanken, man macht sich und den anderen (auch den Ärzten) Vorwürfe, man wird zornig dem Leben, manchmal auch Gott gegenüber, zumindest aber fragt man: „Warum?”

Damit beginnt die Phase der Depression, die in verschiedenen Härtegraden verlaufen kann. Man ist niedergeschlagen, kraftlos und ausgelaugt. Alles um den Trauernden nimmt wieder seinen I>auf, das Leben geht weiter, die Mitmenschen leben so, als hätte es unseren nahen Angehörigen nie gegeben, aber dem Betroffenen fehlt er doch so sehr.

Existentielle Fragen tauchen auf: „Warum müssen alle sterben? Wozu leben wir überhaupt? Ist nicht alles im Grunde traurig und sinnlos? Wozu setzt man Kinder in die Welt, wenn doch alles auf den Tod zugeht? Wozu viele Nachkommen bekommen, sollte man ihnen dieses Leiden, das der Tod in sich birgt, nicht ersparen ...?” Aus diesem Denken entsteht Zweifel und ein Gefühl der Sinnlosigkeit.

Im Leiden entsteht fast in logischer Konsequenz die Frage nach dem Warum? In eindrücklicher Erinnerung dazu sind mir die Worte von Elisabeth Elliot (deren Mann als Missionar von Angehörigen des Auca-Stammes ermordet wurde), aus einem ihrer Bücher: „Ich bin oft gefragt worden: ,Wie hast du es nach dem Tod deines Mannes nur fertiggebracht, zurück in den Dschungel zu gehen?' Ich hätte es wahrscheinlich überhaupt nicht fertiggebracht. Ich ging nicht zurück, sondern ich blieb dort. Es gab Arbeit, jede Menge Arbeit, und es war sonst niemand da, der sie hätte tun können. Vom ersten Tag an, nachdem wir von der Ermordung meines Mannes erfahren hatten, war jeder Tag mit Pflichten ausgefüllt. Ich mußte mich um mein Baby kümmern, mein Haus versorgen, das Rollfeld in Ordnung halten, die Indianer unterrichten, beschäftigen und besuchen, ihnen Injektionen verabreichen, ihnen helfen und sie beraten, die Übersetzungsarbeit fortführen, den Briefverkehr aufrechterhalten. All diese Tätigkeiten füllten meine Zeit aus, in der ich sonst vielleicht im Selbstmitleid versunken wäre.”

Dieses Maß an Disziplin war sicherlich eine besondere Gabe dieser Frau, doch Arbeit und Pflichterfüllung sind wichtige Maßnahmen in der Phase der Niedergeschlagenheit. Eine Aufgabe zu haben, wertvoll zu sein, macht Leiden erträglicher und gibt dem Leben einen neuen Sinn.

Die Verrichtung der täglichen Pflichten, oder vielleicht ganz neuer Aufgaben, birgt die Chance, einen neuen I>ebenssinn zu finden und Antworten darauf, warum Gott weiterleben läßt. Und so geschieht es oft ganz unmerklich, daß der Trauernde aus dieser dunklen Phase hinaus in einen neuen Abschnitt gelangt: obwohl einem der Verstorbene fehlt, ist die Tendenz wieder „aufs lieben gerichtet”, die Aufgaben werden wieder klar, die Dinge bekommen wieder den angemessenen Stellenwert und auch der Trauernde wird toleranter mit seinen Mitmenschen.

Diese vierte Phase des Annehmens, des Akzeptierens und des Wiederein-gliederns in das Leben ist eine bewußte Entscheidung. Sie spielt sich im Kopf ab, auch wenn man manchmal das Herz und die Gefühle „ausschalten” muß.

Es ist einfach nur über den Verstand möglich, mit dem Verlust eines geliebten Menschen fertig zu werden.

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