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Franz Kafkas letzte Tage

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Anfang April 1924 wird der Prager Schriftsteller und Versicherungsbeamte Franz Kafka von Freunden aus der Heimatstadt, in die er nach mehrmonatigem Aufenthalt in Berlin erst kürzlich hatte zurückkehren müssen, in ein Sanatorium nach Österreich gebracht. Seit den entbehrungsreichen Kriegsjahren trug er den Keim der Tuberkulose in sich, und die charakteristischen Symptome, Fieber und krampfartiger Husten, traten von da an in unregelmäßigen Abständen, zum Teil noch vereinzelt und vorübergehend, zum Teil aber auch schon beharrlicher, auf, so daß gelegentliche Kuraufenthalte notwendig wurden.

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Anfang April 1924 wird der Prager Schriftsteller und Versicherungsbeamte Franz Kafka von Freunden aus der Heimatstadt, in die er nach mehrmonatigem Aufenthalt in Berlin erst kürzlich hatte zurückkehren müssen, in ein Sanatorium nach Österreich gebracht. Seit den entbehrungsreichen Kriegsjahren trug er den Keim der Tuberkulose in sich, und die charakteristischen Symptome, Fieber und krampfartiger Husten, traten von da an in unregelmäßigen Abständen, zum Teil noch vereinzelt und vorübergehend, zum Teil aber auch schon beharrlicher, auf, so daß gelegentliche Kuraufenthalte notwendig wurden.

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Doch zu Beginn des Jahres 1924, wohl durch die Mangelerscheinungen des Inflationswinters hervorgerufen, haben Fieberanfälle von nie zuvor erlebter Heftigkeit ihn niedergeworfen. Ein dauerndes Fiebern folgt — „38 Grad ist zum täglichen Brot geworden, den ganzen Abend und die halbe Nacht“ —, fesselt ihn ans Haus, und „der stundenlange Morgen- und Abendhusten“ schwächt seinen mitgenommenen Körper noch mehr und läßt Schlimmstes befürchten.

Dazu kommt das stete Schwinden seiner finanziellen Mittel, die ihm nach seiner vorzeitigen Pensionierung Mitte 1922 nur noch in beschränktem Ausmaß zur Verfügung standen, und er sieht sich immer wieder, um Wohnung, Ärzte und Medikamente bezahlen zu können, gezwungen, Eltern und Geschwister um Hilfe zu bitten.

Seine schriftstellerische Arbeit, die er im März mit der phantastischen Tiergeschichte „Josefine die Sängerin oder Das Volk der Mäuse“ für immer unterbrochen hat, bringt ihm kaum etwas ein, zumal damals nur

einige hundert Menschen seinen Namen kennen. Zwar gibt es Stöße von handgeschriebenen Heften und Blättern, die bei verläßlichen Freunden aufbewahrt liegen, mit einer Unzahl von kleineren Erzählungen, Skizzen, Aphorismen, Entwürfen und Tagebuchnotizen und vor allem mit den Manuskripten dreier bruchstückhafter Romane, doch ist in den Augen des Autors all dies nicht zur Veröffentlichung bestimmt und muß laut testamentarischer Verfügung nach seinem Tode ungelesen vernichtet werden. Denn nicht für ein Publikum ist das alles entstanden. Das Schreiben ist dem im Grunde Einsamen und zur Melancholie Neigenden stets nur ein Mittel gewesen, sich von den düsteren Gedanken und den Bedrückungen seines sonst wenig erfüllten Lebens zu befreien.

Nur durch die Initiative von Freunden ist nach und nach einiges aus der Fülle des Vorhandenen veröffentlicht worden, aber auch diese wenigen schmalen Bändchen mit Erzählungen und Betrachtungen sind kaum beachtet worden und unter-

gegangen in der Masse der Publikationen jener Jahre und in den politischen und wirtschaftlichen Wirren der Zeit. Dennoch hat Kafka noch kurz vor seiner Erkrankung ein neues Buch mit Erzählungen unter dem Titel „Der Hungerkünstler“ für den Druck vorbereitet.

Im Sanatorium „Wiener Wald“ in Ortmann in Niederösterreich verbringt Franz Kafka die erste Aprilhälfte. Er lobt die wunderbare Lage und sein gutes Zimmer, doch er fühlt sich fremd darin. Es scheint ihm „ein großes Schwatznest zu sein von Balkon zu Balkon“, und er kommt „mit dem übrigen Haus ... gar nicht in Verkehr“. Der Gesamteindruck ist jedenfalls bedrückend, was aber vor allem auf die allmähliche Verschlimmerung seines Leidens zurückzuführen ist. Er ist bettlägerig, und es quälen ihn heftige Schmerzen im stark angeschwollenen Kehlkopf, kaum vermag er zu essen und kann nur im Flüsterton sprechen. Und er weiß ja, zumal „bei Besprechung... jeder in eine schüchterne, ausweichende, starräugige Redeweise verfällt“, was die Ärzte ihm vergeblich

zu verheimlichen suchten: daß er an Kehlkopftuberkulose leidet.

Die andauernde Verschlechterung seines Zustandes zwingt ihn schließlich, die Universitätsklinik des Professors Dr. Hajek in Wien 9, Lazarettgasse 14, aufzusuchen. Dort erhält er eine der ernsten Lage entsprechende fachkundige Spezialbehandlung, die zwar kurzzeitige Linderungen seiner Schmerzen bewirkt, im ganzen aber die Sache nicht zum Guten zu wenden vermag. Auch seelisch hat der Kranke zu leiden: unter jener Kälte und Gleichgültigkeit, wie sie ein größerer Spitalsbetrieb zuweilen für den einzelnen Patienten mit sich bringt. Und er leidet um so mehr, als er überaus sensibel ist, leicht zu Depressionen neigt und inzwischen auch schon Gewißheit bekommen hat über seine Krankheit; „...und habe heute schon einigemal geweint“, schreibt er einmal, „mein Nachbar ist in der Nacht gestorben“.

Ein großer Trost ist ihm in diesem Zustand die Anwesenheit seiner zwanzigjährigen Lebensgefährtin Dora Diamant, mit der er noch im

Herbst 1923 in Berlin eine der glücklichsten Zeiten seines Lebens verbracht hat, die ihm alle seine auf Heim und Familie gerichteten Wünsche zu erfüllen schien. Daneben widmet sich auch sein Freund Robert Klopstock, der sein Medizinstudium in Berlin dem Kranken zuliebe unterbrochen hat, aufopfernd seiner Pflege.

Am 20. April bringen sie den schon vom Tode Gezeichneten in das Sanatorium von Dr. Hoffmann in Kierling bei Klosterneuburg in der Nähe Wiens. Der Kranke fühlt sich dort „sehr schwach, aber... recht gut aufgehoben“. Sprechen kann er nicht mehr, er schreibt, was er den Freunden oder dem Personal mitzuteilen wünscht, auf Zettel. Zumeist sind seine Gedanken bei seiner Krankheit und bei Nahrungsmitteln, deren Genuß ihm versagt werden muß, vor allem Obst und Getränke. Der Vorgang des Trinkens, der ihm größte Schmerzen bereitet, ist Gegenstand vieler Notizen dieser Gesprächsblätter. Auch den Blumen in seinem Zimmer gilt sein Augenmerk, auf ihre Pflege ist er sorgsam bedacht. Zu lesen vermag er nur für sehr kurz. „Dazu bin ich zu müde“, sehreibt er auf einer Postkarte an Max Brod, „Geschlossen sein ist der natürliche Zustand meiner Augen, aber mit Büchern und Heften spielen macht mich glücklich“.

Er erfährt nicht das Ergebnis der am 2. Mai stattgefundenen Untersuchung durch den Dozenten Doktor Beck, der einen „zerfallenden tuberkulösen Prozeß“ diagnostiziert, dem kein operativer Eingriff mehr Einhalt gebieten könne. Es sei, so heißt es in dem Bericht des Arztes, ein „Zustand, in dem kein Spezialist ihm mehr Hilfe bringen kann und man nur durch Pantopon oder Morphium die Schmerzen lindern kann“. Der Kranke, der wohl den Ernst der Lage einigermaßen kennt, weiß aber nichts von der völligen Hoffnungslosigkeit seines Zustandes und von der Kürze der Frist, die ihm nach Ansicht der Ärzte noch zugemessen ist. Er zeigt zeitweise sogar Hoffnung und einen starken Lebenswillen, der ihn bereitwillig und gewissenhaft alle ärztlichen Anordnungen befolgen läßt. Aber ebenso oft resigniert er und läßt sich in Verzweiflung fallen. Für dieses aus der Ungewißheit über den Ausgang seiner Krankheit resultierende Schwanken zeugen mehrere Notizen der Gesprächsblätter. „Selbst wenn ich mich wirklich von allem ein wenig erholen sollte“, heißt es etwa, „von den Betäubungsmitteln gewiß nicht.“ Oder: „Wir reden vom Kehlkopf immer so, als könne es sich nur zum Guten entwickeln, das ist aber doch nicht wahr.“ Oder er teilt seine Auffassung über sein Hauptproblem einem der Ärzte mit, was aber wohl eher als Frage, die Antwort sucht, verstanden sein will: „Selbst wenn es zur Vernarbung kommt... dauert das Jahre, ebenso lange wird man auf schmerzloses Essen warten müssen.“

Die dominierende Stimmung aber ist die Bedrückung. „Gib mir einen Augenblick die Hand auf die Stirn, damit ich Mut bekomme“, steht auf einem dieser erschütternden Zeugnisse von Kafkas letzten Lebenswochen. „Immer wieder Angst“ auf einem anderen.

*

Im Laufe des Mai muß er fast andauernd unter der Einwirkung von Medikamenten gehalten werden. Er bekommt Alkoholinjektionen, die ihn für Stunden in Rausch versetzen. Die Nahrungsaufnahme bereitet immer ärgere Schmerzen und immer größere Schwierigkeiten. Es ist im wahren Sinn des Wortes ein Verhungern, dem er entgegengeht. Und für immer kürzere Zeiträume kann seine Aufmerksamkeit von seinem Leiden weggelenkt werden, wobei sich zeigt, daß er an geistigen Dingen immer noch Anteil zu nehmen vermag. So finden wir auf den Notizzetteln vereinzelt Erkundigungen nach Büchern. Oder er beklagt sich über das späte Eintreffen der Druck-

bögen seines Buches „Der Hungerkünstler“, dessen Erscheinen er nicht mehr erleben wird. „Jetzt erst schik-ken sie mir das Material“, notiert er, und ein andermal: „Jetzt will ich es lesen. Es wird mich zu sehr aufregen, vielleicht, ich muß es doch von neuem erleben.“ Erst kürzlich war „Jose/ine“, seine letzte Arbeit, den ursprünglich vorgesehenen drei Erzählungen, „Erstes Leid“, „Eine kleine Frau“ und der Titelgeschichte, hinzugefügt“ worden! Noch' wenige Tage vor seinem Tod, so berichtet sein Freund Max Brod, soll er in relativ guter Verfassung an den Korrekturen dieses Buches gearbeitet und sogar an seine Eltern einen Brief geschrieben haben, darin er ihnen in erstaunlich optimistischer Weise, wohl nicht zuletzt, um sie nicht zu beunruhigen, seinen Zustand darlegt oder vielmehr verheimlicht — „... noch immer nicht recht erholt“ — und ihnen davon abrät, ihn vorderhand zu besuchen. Denn „wenn man... nicht große, unleugbare, mit Laienaugen meßbare Fortschritte zeigen kann, soll man es lieber lassen“.

Kurz danach, am 3. Juni 1924, stirbt Franz Kafka, erst vierzig Jahre alt, im Kierlinger Sanatorium. Nur einige hundert Menschen kannten damals seinen Namen. Aber mit prophetischem Sinn sprach sein Freund Johannes Urzidil bei der Gedenkfeier in Prag die Worte, die Zeit sei noch nicht reif für diesen Dichter, und man müsse „warten, bis der Zeit wieder jene zarten Organe nachgewachsen sein werden, die notwendig sind, um das Allertiefste und Feinste zu erfassen“.

Die Voraussetzungen für Kafkas Weltruhm schuf, aus einer ähnlichen Uberzeugung, ein anderer Freund des Verstorbenen, der Schriftsteller Max Brod, indem er den Wunsch nach Vernichtung des Nachlasses mißachtete und diesen nach und nach — mit den Romanen „Der Prozeß“, „Das Schloß“ und „Amerika“ beginnend — der Öffentlichkeit übergab. Aber noch mußte die Welt durch schwerste Krisen und Kriege erschüttert werden, bevor sie die seltsam verschlüsselte Botschaft des genialen Prager Außenseiters zu verstehen begann.

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