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Nur 10 Prozent

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Die Soziologen nennen unsere Gesellschaft eine offene, weil wir unser Haar nicht mehr selbst zu Hause waschen, am Sonntag mit unserer Familie im Restaurant essen und ein Girokonto mit Daueraufträgen haben. Diese und noch mehr Beispiele führen sie an und illustrieren so, daß wir uns in den letzten Jahrzehnten geöffnet haben und daran sind, immer maßgeblichere Teile unseres Lebens nach außen zu verlegen.

Auch Geburt und Tod und die Krankheit dazwischen vollziehen sich nicht mehr daheim. Sie lassen sich in das Programm der Lebensqualität nicht einpassen.

Krankheit und Tod sind zwei der wenigen Tabus, die vom Wohlstandsmenschen nicht angetastet werden. Ja, es scheint, als ob die postindustrielle Gesellschaft der Krankheit und dem Sterben immer hilfloser gegenüber stünde. Leiden, Hinfälligkeit und Tod erscheinen unheimlich, ohne Sinn und Nutzen. Man überantwortet die Sorge dafür der Öffentlichkeit, erwartet von ihr die Bereitstellung der erforderlichen Dienste und hospitalisiert alle, die nicht für den Arbeitsprozeß taugen. Kranke, Alte und die mehrfach körperbehinderten, debilen Jüngsten aus der Frühgebo- renenaufzucht um jeden Preis werden abgeschoben, möglichst rasch und möglichst auf Lebensdauer.

So kommt es, daß oft in spektakulärer Fahrt mit Blaulicht und Folgeton der Ort aufgesucht wird, wo das Leben zu beginnen und zu enden hat: das Krankenhaus, der sozusagen standesgemäße Ort des Sterbens. Das Vorspiel dazu ereignet sich nicht selten im Rettungswagen, dem mobilen Sterbebett.

Nur zehn Prozent der Österreicher sterben daheim. Weitere zehn Prozent in Heimen und 80 Prozent in den Krankenhäusern, obwohl auch dort für sie keine Zeit, kein Platz ist. Der vieltausendfache, einsame Tod auf dem Gang oder in der Abstell-

kammer einer Krankenabteilung als letzte Konsequenz unserer abendländischen Gesellschaft bezeugt es. Er hat keinen Schrecken mehr — für die Hinterbliebenen.

Wer mit der Praxis des Sterbens in den österreichischen Spitälern Erfahrung gemacht hat, weiß, daß es den Tod dort ja gar nicht gibt, obwohl er beispielsweise im vorletzten Jahr 76.259mal vorgekommen ist. Das Sterben ist nicht eingeplant! Den Artz beherrscht Unsicherheit, wie das mit dem Todeszeitpunkt in der Praxis ist und wann er den Monitor abschalten soll. Die Krankenschwester in ihrer Geschäftigkeit „hat keine Zeit“, dem Sterbenden die Hand zu drücken und den kalten Schweiß von seiner Stirn zu streichen. Der Verwalter schließlich hat an das Sterben auch nicht gedacht und daher für diesen Funktionsablauf keine Räumlichkeit und kein Budget vorgesehen.

Es bleibt alles im Biologischen stek- ken, und die überaus fortschrittliche Medizin zwingt den Patienten, seine jahrtausendealte Frage umzuformulieren. Aus seinem „Muß ich sterben“ wird immer häufiger ein „Darf ich sterben“. Denn ein ungeheuer apparativer und chemischer Aufwand unter Einsatz beträchtlicher finanzieller Mittel verdrängt das Recht auf den Tod und auf die Würde des Sterbens.

Welchen Sinn soll es aber haben, bis zur letztmöglichen Sekunde zu leben, die die heutige Medizin verschaffen kann! Was können diese künstlichen Stunden, Tage, ja Wochen, ohne die Fähigkeit des Fühlens und Denkens noch ausloten?

Die Forderung O. Schambecks am Deutschen Katholikentag, den An spruch auf ein menschliches Sterben in den Kodex der Grundrechte aufzunehmen, bedeutet eine wesentliche Initiative zur Lösung dieser komplexen Unsicherheit. Denn je ernster der Zustand eines Kranken wird, je düsterer die Prognose, um so deutlicher tritt das Geheimnis des Lebens zutage, und es kommt der Moment, da das medizinische Problem eines Menschen zum religiösen wird und die Todesnähe vom profanen in den sakralen Bereich überwechselt, ln diesem Zustand hat der Sterbende sicher nur mehr ein Problem: werde ich am Ende des dunklen Weges, den ich jetzt allein gehe, ein offenes Tor ins Licht finden?

Wenn je ein Mensch den anderen braucht, so in seiner Sterbestunde, von der die Gebete der Kirche erhoffen, daß sie eine gute sein möge. Der Sterbende hat Angst und braucht uns. Wenn er auch auf seinem ölberg das Gebet findet — es mag selten genug sein —, braucht er einen Jünger bei sich, der wacht.

Dieser Jünger kann kein Apparat sein, sondern nur ein Mensch. Was aber bieten wir an? Infusion, Intubation, Injektion in der Dienstleistung, und im Privaten teure Chrysanthemen auf das Grab des Menschen, in dessen Todesantlitz wir nicht zu blik- ken gewagt haben.

Wer hilft uns Lebenden in dieser Not, in dieser Todesnot?

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