"Wir verpassen oft große Lebenschancen"

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Beate Winkler machte Karriere als EU-Managerin. Dann stieg sie aus und wurde Malerin. Ein Gespäch über die Kraft von Politik und Kunst.

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Beate Winkler machte Karriere als EU-Managerin. Dann stieg sie aus und wurde Malerin. Ein Gespäch über die Kraft von Politik und Kunst.

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Beate Winkler war Ausländerbeauftragte der deutschen Bundesregierung und von 1998 bis 2007 die erste Direktorin der Europäischen Stelle zur Beobachtung von Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus (die erste weibliche Direktorin einer EU-Agentur überhaupt). Dann entschied sie sich für einen radikalen Bruch und wurde Malerin. Heute wirbt sie für existenzielles Umdenken und einen Brückenschlag zwischen Politik und Kunst.

Die Furche: Sie hatten eine im klassischen Sinn höchst erfolgreiche Karriere. 2007 haben Sie sich entschieden, auszusteigen und ganz neu anzufangen. Warum?

Beate Winkler: Ich stand damals vor der Entscheidung, ob ich mehr vom Gleichen will oder ob etwas ganz anderes darauf wartet, von mir noch gelebt zu werden. Sehr belastend war für mich auch, dass wir das Thema Integration immer aus einer negativen Perspektive betrachten. Nicht als Chance, sondern als einen politischen Sprengsatz. Persönlich hatte ich die Sehnsucht nach Leichtigkeit.

Die Furche: Ich nehme an, einige Freunde und Kollegen machten sich damals ernsthaft Sorgen um Sie.

Winkler: Ja, diese Sorgen hatten ja auch ihren Grund. Jemand, der das System einmal verlässt, fliegt in der Regel hinaus. Das ist gnadenlos. Entweder ich spiele voll mit oder ich verweigere mich. Zwischenformen gibt es zu wenig.

Die Furche: Lebenslanges Lernen als lebenslange Einbahn.

Winkler: Und dabei denken wir immer, wir hätten unser Leben unter Kontrolle. Aber das stimmt nicht. Wir haben es und wir haben es nicht. Wir können sehr vieles gestalten, aber manches können wir nicht gestalten, da werden wir gestaltet.

Die Furche: Haben Sie Ihre Aufgabe nie vermisst?

Winkler: Doch, aber ich bin ja mit dem Thema "Zusammenleben" weiter eng verbunden. Es ist ein guter Teil von mir, aber er hat natürlich nicht mehr diese Priorität. Möglich, dass ich habe mich am Thema der Nichtzugehörigkeit abgearbeitet habe.

Die Furche: Inwiefern?

Winkler: Das hat auch mit meiner Biografie zu tun. Wenn Sie Personen beobachten, die so lange im Menschenrechtsbereich arbeiten wie ich, haben meist einen biografischen Grund. Meine Eltern, meine Schwester und ich sind aus der DDR geflohen, als ich acht Jahre alt war. Diese Erfahrung, dass alles plötzlich von einer Sekunde auf die andere weg sein und man nicht zurückgehen kann, um Abschied zu nehmen, ist prägend. Wir kamen dann in Köln-Marienburg an, einer ziemlich reichen Umgebung. So lernte ich das Gefühl kennen, nicht dazuzugehören. Und heute bin ich eine Deutsche in Österreich und gearbeitet habe ich nicht für Österreich oder Deutschland, sondern für die Europäische Union.

Die Furche: Und wozu gehören Sie heute?

Winkler: Es gibt eine wunderbare Formulierung von Vilém Flusser, einem Soziologen, der 1939 nach Südamerika geflohen ist und von der "Freiheit der Migranten" schrieb. Er verfasste einen Essay "Wohnung beziehen in der Heimatlosigkeit". Das gilt für viele von uns Migranten. Wir können uns schnell adaptieren. Sie können mich z.B. nach Kleinkleckersdorf oder in den Elyseepalast schicken und ich funktioniere.

Die Furche: Fragen wir einmal umgekehrt nach Europa, warum funktioniert die EU derzeit nicht? Gerade was das Thema Migration betrifft, ist diese Frage virulent.

Winkler: Europa schottet sich ab und träumt davon, dass die Probleme, die es ausgesperrt hat, an ihm vorüberziehen werden. Fataler Irrtum. Das hat man z.B. mit dem Abkommen von Dublin gemacht. Seitdem müssen Flüchtlinge ihren Asylantrag in jenem Mitgliedsstaat stellen, den sie zuerst betreten haben. Damit schieben die reichen Staaten die Probleme an den ärmsten in der Union ab, an Griechenland oder Bulgarien. Und jetzt bekommt Europa die Rechnung serviert.

Die Furche: Christopher Clark hat eine ganz ähnliche Geschichte politischer Realitätsflucht in seinem Buch "Die Schlafwandler" beschrieben, in dem es um Europa am Vorabend des Ersten Weltkriegs geht.

Winkler: Da stimme ich zu, Clarks Buch war auch ein Anlass für mich, das Buch "Unsere Chance - Mut, Handeln und Visionen in der Krise" zu schreiben. Ich habe gesehen, dass wir in immer größere Krisen hineintaumeln, weil wir vor Veränderung Angst haben. Das beobachte ich im politischen Umfeld, aber auch bei uns selbst. Wir fragen uns zu wenig: "Wer bin ich und was will ich eigentlich leben?", sondern wir gehen darüber hinweg. Und verpassen große Lebenschancen.

Die Furche: Bleiben wir einmal bei diesem Punkt. Sie haben diese Veränderung ja gewagt. Aber wussten Sie damals, was Sie danach machen wollten?

Winkler: Nein, ich habe mir eine gewisse Zeit gegeben, um nachzudenken. Man muss leer werden können, um zu entscheiden. Vieles erst einmal los zu werden, sich selbst zuzuhören -das hat gedauert. Die Situation ist auch schwierig: Das Alte ist weg, aber das Neue noch nicht da.

Die Furche: Antonio Gramsci hat einmal gesagt, in der Zeit der Dämmerung, wenn die Nacht noch nicht weg ist und der Morgen noch nicht da, dann kommen die Gespenster. Gemeint hat er die politische Angst der 20er Jahre, aber das Bild kann ja auch für Lebensabschnitte gelten.

Winkler: Ja. Beim mir hat diese Übergangszeit zirka ein Jahr gedauert. Ich fing an zu schreiben und zu malen und schaute mir mein Leben noch einmal an. Heute muss ich sagen, ich habe eigentlich zwei Bereiche gewonnen, die mir wichtig sind. Ich bin nach wie vor ein "political animal". Und ich bin Malerin. Beides gemeinsam erfüllt mich. Mich nur auf Malerei zu konzentrieren, das ginge nicht.

Die Furche: Die Frage, wie die Kunst die Politik befruchten kann, ist oft gestellt, aber die Antwort erschöpft sich oft in banalen feierlichen Erklärungen über die Wichtigkeit der Kunst. Was kann Kunst der Politik geben?

Winkler: Kunst bedeutet für mich Freiheit und Freiraum, Perspektivenwechsel und Kreativität -und noch mehr. Sie hat die größte Freiheit, wenn sie nicht ökonomischen Zwängen unterworfen wird, wie das oft auf dem Kunstmarkt der Fall ist.

Die Furche: Was kann der politische Mensch vom Künstler lernen?

Winkler: Für mich ist Kunst eine Quelle der Energie.Ich bin mit Schöpfung eng verbunden, wenn ich künstlerisch tätig bin. Ich bin nicht auf meinen Verstand reduziert. Wie einer meiner Lehrer das ausdrückte: "Beate, du musst als Malerin schneller sein als Dein Verstand. Vertraue Dir!" Wir wissen heute über Intuition: Je komplexer die Situation ist, desto besser ist die Intuition, weil sie auf ursprüngliches Erfahrungswissen zurückgreifen kann.

Die Furche: Dann müsste das politisch gesehen heißen, dass die Politik mehr an intuitivem Selbstvertrauen und Experimentierfreude entwickeln müsste, in etwa so?

Winkler: Politik muss sich den Freiraum geben, nicht nur Politik zu erklären, sondern auch Perspektiven zu entwickeln. An beidem fehlt es heute. Zum einen fehlt es an Erklärungen unserer komplexen Welt. Zum anderen aber auch an Zukunftsbildern, die wir für gelingende Veränderungsprozesse immer brauchen.

Die Furche: Welche Rolle spielt denn das Spiel in einer von Kunst inspirierten Politik? Das Spiel wird in politischen Zusammenhängen ja oft nur im Sinne von Falschheit und Intrige gebraucht.

Winkler: Spiel -und das bedeutet auch Kreativität -sind viel zu wenig genutzte Ressourcen. Auch durch Spiel sind in meiner neuen Ausstellung in Berlin schwebende Skulpturen entstanden. Ich habe mit Büttenrollen gearbeitet, und festgestellt, dass sie eine hoch interessante Rückseite haben und je nachdem, wie sie sich entrollen oder gehängt werden, haben sie unterschiedliche Formen und Farben und auch Botschaften. Die Rückseite kann zur Vorderseite werden und umgekehrt. Und plötzlich hatte ich dadurch das Potenzial verdoppelt. So ist es auch in anderen Zusammenhängen. Mit einem künstlerischen, emotionellen Zugang können wir ganz andere Perspektiven entwickeln als über Businesspläne. Wir müssen neu denken, damit wir nicht die Antworten von gestern downloaden für die Fragen von heute und morgen. Mit Kunst können wir leichter innovativ sein.

Die Furche: Das bedeutet, dass Reformen nicht am aktuellen Problem ansetzen müssen, sondern viel grundsätzlicher.

Winkler: Wir können zum Beispiel wieder lernen, Brüche in unserer Existenz zu akzeptieren und sie als Chance sehen. Wir haben ein lineares Denken, wie sich das auch in unserer Wirtschaftspolitik zeigt. Alles muss endlos wachsen. Man beginnt etwas und es soll zwangsläufig etwas bringen. Wir wissen aber aus den Naturwissenschaften, dass das eben in der Natur genau nicht der Fall ist. Auch Biografien haben heute ganz andere Brüche als früher. Die Frage ist, wie gehen wir mit diesen Brüchen um? Oder gibt es nicht auch Dinge, bei denen ich die Lösung in erster Linie im Inneren suchen sollte und im Äußeren nicht finden kann?

Die Furche: Das wird dann aber heftig werden, bei einer Politik die jedes Problem sofort und ganz konkret "festmachen" muss.

Winkler: Weil wir uns eben "radikal-ökonomisch" inszenieren. Es geht um ein angeblich perfektes Leben und die Jagd danach ist mit viel Angst verbunden. Deshalb sind auch grundlegende Änderungsprozesse auch so schwierig, weil viele gesellschaftliche Rollenbilder obsolet werden. Und da haben Männer oft größere Schwierigkeiten, weil sie sich viel stärker über Funktionen definieren als Frauen. Sie brauchen es, eine Aufgabe zu haben und etwas zu erfüllen. Aber was passiert, wenn die Aufgabe weg ist? Und wir tun noch dazu alles, dass wir unsere Menschlichkeit immer mehr verlieren. Dass wir uns als Menschen abschaffen - wie Maschinen agieren - ohne Gefühl und Mitgefühl.

Die Furche: Wie öffnet man dieses Denken?

Winkler: Durch Vertrauen in Veränderung. Menschen zu vertrauen und sie durch Bildung fit zu machen für die Zukunft. Unsere Gefühle und Bedürfnisse wahrnehmen. Zuhören und mit anderen respektvoll umgehen. Vor allem aber brauchen wir Zukunftsbilder und Perspektiven für ein neues Zusammenleben. Für ein neues WIR.

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