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Ohne fremde Hilfe gibt es kein Entrinnen

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In Wien ist das Problem der Obdachlosigkeit nicht mehr zu übersehen. Tag für Tag stehen hier rund 5.000 Menschen vor derselben Frage: Wohin?

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In Wien ist das Problem der Obdachlosigkeit nicht mehr zu übersehen. Tag für Tag stehen hier rund 5.000 Menschen vor derselben Frage: Wohin?

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Bis zur großen Strafrechtsreform in den siebziger Jahren galt Obdachlosigkeit unter dem Etikett „NichtSeßhaftigkeit" oder „Vagabundage" als Strafbestand. Von offizieller Seite konnte man daher eine strafbare Handlung nicht gut unterstützen; also gab es Hilfe für die Betroffenen daher meist - wenn überhaupt - nur in Form von Almosen: „Klostersuppe" und Gelegenheitsarbeiten zum Billigsttarif. Besiegelt wurde die Ausgrenzung mit der Unterbringung in Asylheimen.

Das alles gehört aber der Vergangenheit an.

Anfang der achtziger Jahre begann ein Umdenken, an dessen Beginn die Schaffung des „Sozialreferats für Nichtseßhafte" in der Wiener Josefstädterstraße im Jahre 1982 stand. Gerade rechtzeitig, so scheint es, denn in den folgenden Jahren wird das Problem der Obdachlosigkeit immer sichtbarer. Und nicht nur in Wien, sondern in allen europäischen Hauptstädten. Die einheitlichen Trends innerhalb der EU-Staaten definierte eine Studie des IFS (Interdisziplinäres Forschungszentrum für Sozialwissenschaften), die 1993 im Auftrag des Sozialamtes der Stadt Wien durchgeführt wurde: „Für die EG-Staaten gibt die FEANTSA (European Fede-ration of National Organizations Wor-king with the Homeless), die Anzahl der obdachlosen Personen, welche in öffentlichen Unterbringungseinrichtungen betreut werden oder auf der Straße leben müssen, mit rund 2,5 Millionen an.

Die höchsten Obdachlosenraten haben dabei die Länder Deutschland, Frankreich und Großbritannien." Doch zurück zu unseren landeseigenen Problemen.

Obdachlose - Menschen, die auf der Straße leben - gehören heute zum Straßenbild von Wien. In der warmen Jahreszeit trifft man sie häufig in den sogenannten „Beserlparks". Ihr besonderes Kennzeichen: jede Menge Plastiksackerl, in denen die wenigen Habseligkeiten verstaut sind. Und oft, ebenfalls getarnt in Plastik oder Papier - die Flasche.

Für den Normalbürger sind sie oft ein Ärgernis, obwohl sie sich meist ruhig verhalten, auf einer Bank schlafen und froh sind, in Ruhe gelassen zu werden. Trotzdem, die Anwesenheit von Elend berührt viele irgendwie unaHgenehni-, Wie ist es möglich, daß in unserer wohlhabenden Gesell-' schaft Menschen so le'ben müssen? Kann man denn gar nichts tun? Diese Hilflosigkeit äußert sich dann oft durch Ärger.

Es gelingt zunächst einmal, diese Menschen besser zu verstehen, wenn man ihre Schicksale kennt. Es ist immer wieder ähnlich: Zerrüttetes Elternhaus, Gewalt, mangelnde Berufsausbildung, Scheitern einer Beziehung, Arbeitslosigkeit, Alkoholprobleme, wieder Gewalt, körperlicher Verfall, Verwahrlosung in verschiedenen Variationen. Findet sich keine helfende Hand, die stark genug ist, den Fallenden vor dem Abgrund zu bewahren, beginnt meist der Sturz ins Bodenlose.

Einmal auf der Straße, ist der Weg zurück ins normale Leben schwer, ähnlich den Bemühungen eines Bergsteigers, der in eine tiefe Höhle stürzt, aus der es ohne fremde Hilfe kein Entkommen gibt.

Neben privaten Organisationen und Vereinen, wie die Pfarren Neuottakring und Mariahilf, die Tagesheimstätten für Arbeits- und Unterstandslose betreiben, oder die Caritas, die mobile ärztliche Betreuung und Verpflegung anbietet, bemühen sich zwei Abteilungen des Magistrats darum, diesen Menschen wieder halbwegs auf die Beine zu helfen.

Der „Wiener Stufenplan zur Obdachlosenbetreuung" ist ein engmaschiges Netz von Einrichtungen. Sie alle haben das Ziel, Randgruppen wieder in die Gesellschaft zu integrieren. Dabei wird mit privaten Organisationen eng zusammengearbeitet.

Erstversorgung für die Menschen von der Straße bieten die privaten und öffentlichen Tageszentren. Sie sind Wärmestube und erste Anlaufstelle der Obdachlosen. Hier wird Verpflegung geboten, es besteht die Möglichkeit zum Duschen und sich neu einzukleiden. Die persönlichen Habseligkeiten können in versperrbaren Spinden - meist viel zu wenige - untergebracht werden.

Sozialarbeiter - hauptamtliche bei den Einrichtungen der Stadt Wien, bei den privaten Einrichtungen oftmals auch freiwillige Helfer - sind mit Rat und Tat bei der Beschaffung von Papieren und Behördenansuchen behilflich. Vermittelt werden hier ?auch Schlafplätze in einer der Notschlafstellen oder einer privaten oder städtischen Herberge.

Weiter im Stufenplan geht es mit der Aufnahme ins Sozialtherapeutische Wohnheim der Stadt Wien. Doch von der Straße bis hierher ist es schon ein sehr weiter Weg. Und hier aufgenommen zu werden, wo sich ausgebildete Sozialarbeiter um einen bemühen, setzt einiges voraus: kein Alkoholproblem, kein Drogenproblem, keine akut psychische Krankheit, keine schon bestehende Schwangerschaft. Trotzdem, „geschafft" hat man es auch hier noch nicht.

Der nächste Schritt auf dem Weg zur eigenen Wohnung und in die eigenverantwortete Unabhängigkeit ist das „Betreute Wohnen" der „Arbeitsgemeinschaft Wohnung für Bürger in Not". In relativ günstigen Wohnungen, die von der Gemeinde Wien angemietet wurden, lernen die Insassen wieder Boden unter den eigenen Füßen zu finden. Dabei werden sie von Sozialarbeitern unterstützt.

Diesen Stufenplan haben seit 1989 rund 500 Personen durchlaufen. Ein erfolgreiches Experiment?

In über 90 Prozent der Fälle ging es gut, bei sechs Prozent traten wieder Probleme auf, 2,5 Prozent haben sich wieder von dem geordneten Leben verabschiedet.

Obdachlosigkeit ist kein ausschließliches Männer-Problem, auch wenn sie optisch die Szene beherrschen. Auch Frauen sind davon betroffen. Und in jüngster Zeit, das ergab ebenfalls die IFS-Studie, immer mehr junge Frauen. Frauen allerdings gehen das Problem „praktischer" an: Versagen die persönlichen und familiären Netzwerke,,so suchen sie vorwiegend öffentliche Versor-gungseinrichtungen,au|.|Jb6r 80.Pro--zent der befragten Frauen sind in einer der Wiener Unterbringungseinrichtungen gemeldet; rund zehn Prozent leben auf der Straße. Von den befragten Männern ist nur rund die Hälfte gemeldet; also über 40 Prozent leben „öffentlich".

Der Anteil der Ausländer in der „Szene" ist gering bis verschwindend. Der Zuzug aus den Bundesländern in die Anonymität der Großstadt Wien ist allerdings mit 48 Prozent beträchtlich. Tag für Tag stehen somit rund 5.000 Personen vor der Frage: Wohin? Und das, trotz engmaschigem Sozialnetz, echtem Engagement von privaten Vereinen und spendenfreudigen Menschen...

Die Autorin ist

freie Mitarbeiterin der Furche.

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