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Noch immer Flüchtlingsgetto

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Für den Bereich der Stadt Wien ist das Flüchtlingsproblem, soweit es eine Frage der organischen Eingliederung in den Siedlungsund Wohnraum ist, fast gelöst. Aber nur „fast“, denn noch hausen allein in den bundeseigenen Lagern eineinhalbtausend Menschen; dies mehr als zehn Jahre, nachdem sie von den herzlosen Exponenten eines Rot-Chauvinismus bei Nacht und Nebel über die Grenzen getrieben wurden. Eineinhalbtausend Menschen in unserer Stadt müssen also noch immer aus dem Koffer und in einem Provisorium schier ohne Ende leben.

Die so oft gepriesene „Schwäche“ des Wieners für die Fremden ist auch den Flüchtlingen zugute gekommen. Als der Tisch des Wieners, wenn auch nur notdürftig, gedeckt war, nahm man die Flüchtlinge in einer Weise auf, die jene Kontroversen, die nun einmal aus dem Sachverhalt heraus unvermeidlich waren, im Keime erstickten und uns nicht die Groteske einer Flüchtlingspartei bescherten wie sie nun die Deutschen mit dem BHE haben. Es kam auch zu keiner Zweiteilung der Bevölkerung wie in der Bundesrepublik: Hier Einheimische (den Begriff des „Eingeborenen“ kennen wir hierzulande nur, wenn wir provoziert werden) und. hier Zugewanderte.

Aber noch haben wir merkbar Flüchtlinge unter uns: Die Menschen in den Barackenlagern. Wer durch Wierl fährt, kann einen Umfang der Bautätigkeit feststellen, der wohl jenem der unseligen Gründerzeit nahekommt. Diesmal sind es aber nicht Zinskasernen, geschaffen, um kleine Leute auszubeuten, und nicht Zinspaläste, um der Elite ein Wohnen in Komfort zu ermöglichen, sondern Wohnungen, deren Mieten oder Erwerbskosten für die überwiegende Mehrheit erschwinglich sind. Und bei der Fülle von neuen .Wohnungen sollte kein Platz sein für einige hundert Familien, die nun endlich einmal in Ruhe und auf Bleibe leben wollen?

Wir müssen dem Internationalen Katholischen Institut für Katholische Sozialforschung dafür Dank sagen, daß es gemeinsam mit dem Institut für Sozialreforrri und Sozialpolitik in Wien darangegangen ist, in einem Bericht1 umfassendes Material über die Flüchtlingslager des Bundes in Wien vorzulegen und auf diese Weise die Chance zu einem eingehenden Studium des An-siedlungsproblems der Flüchtlinge zu bieten. Dem vorgelegten Bericht der beiden Institute

1 Bericht Mr. 20, herausgegeben vom Internationalen Institut für kirchliche Sozialforschung, Wien IX, Boltzman'ngässe 14, und dem Institut für Sozialpolitik und Sozialreforni, Wien 1,'Ebendorferstraße 6. entnehmen wir, daß in den vier bundeseigenen Lagern in Wien noch insgesamt 1444 fast durchweg deutschsprachige Personen leben. Von den Lagerinsassen sind bereits 67 Prozent eingebürgert, während es im Bundesgebiet nur 16 Prozent der Lagerbewohner sind.

Beruflich stellen die Lagerbewohner eine Art negative Auslese jener Menschen dar, welche die gebotenen Chancen bisher nicht benutzen konnten, aber auch keine Gelegenheit zur Auswanderung hatten.

Warum sind die Eineinhalbtausend noch in den Lagern, während die überwiegende Mehrheit der in Wien befindlichen Flüchtlinge bereits in festen Quartieren ist? Die Gründe sind verschieden. Zum Teil ist es eine gewisse und verständliche Resignation, insbesondere der alten Leute, die nicht die Kraft haben, um das Wagnis der Gründung eines neuen Hausstandes auf sich zu nehmen, zum Teil betrachten Flüchtlinge den Lageraufenthalt tatsächlich als ein Provisorium und hoffen auf eine Auswanderungschance. Die Mehrheit (das sind 84,8 Prozent) hat aber keine konkreten Zukunftswünsche mehr und läßt sich von der Entwicklung treiben. Dazu kommt das relativ hohe Alter der Lagerbewohner; etwa 400 sind über 50 Jahre alt. In jedem zweiten Haushalt ist ein chronisch Erkrankter.

Ein Index für die allgemeine Resignation unter den Lagerbewohnern ist das merkbare Absinken der Geburtenzahlen. Die Zahl der 14- bis 18jährigen beträgt 115, die der Kinder bis zu sechs Jahren (zwei Jahrgänge mehr) ist ebenso groß. . • -

Wenn man die Wohnverhältnisse untersucht, darf man nicht erstaunt sein ob der geringen Geburtenzahlen: In einem Fall wohnen mehr als sieben Personen in einem Raum, in 48 untersuchten Fällen vier Personen. In einer, zweiräumigen Barackenwohnung müssen nicht weniger als neun Personen hausen. Ein einziger Haushalt unter mehreren hundert hat' vier Räume (mit sechs Personen). Daß da nur vier Familien fünf Kinder und eine einzige sieben hat, darf nicht verwundern. Zudem bedeuten die Kinder für die Flüchtlinge eine Immobilisierung bei der Stellensuche.

Wie immer man den Wohnungsmangel im Wien von heute klassifiziert, es müßte bei richtigen Dispositionen möglich sein, die 494 Haushalte und haushaltähnlichen Gebilde, die in den bundeseigenen Lagern festgestellt werden konnten, durch Wohnungszuweisungen 'auszusiedeln. Dabei sollen gewisse Schwierigkeiten nicht

übersehen werden, die da und dort von den Flüchtlingen selbst bei der Liquidierung ihres Barackendaseins gemacht werden. Aehnliches konnte man in London feststellen, als man die Slums auflöste und die Arbeiter aus ihren Wohnkasernen, an die sie sich gewöhnt hatten, nicht ausziehen wollten.

Nach Mitteilung von Fachleuten wird die quantitative Wohnungsnot wahrscheinlich in fünf bis sieben Jahren beseitigt sein. In Wien eher früher. Es wäre nun ein Skandal, sollte man bei Beseitigung der Wohnungsnot die „Campingplätze“ der Flüchtlinge übersehen. Es ist ein soziales Anliegen erster Ordnung, endlich die Flucht der Eineinhalbtausend zu beenden und ihnen ein Zuhause zu geben, gar nicht zu reden von den Kindern, die Zeit ihres kurzen Lebens nur das Milieu der Wohnkolchosen mit ihren drastischen Konfliktsituationen kennengelernt haben und einfach verkommen müssen. Die Flüchtlinge in den

Lagern gehören auseinander, sie haben den Kontaktkoller, den wir aus den Gefangenenlagern kennen, sie haben das Recht, endlich einmal persönliche Gebrauchsgüter erwerben zu können und spontan ihr Leben, das bisher innerhalb einer vorgegebenen Lagerordnung Verlaufen mußte, zu gestalten.

Man kann nun sagen: Die Flüchtlinge in den Lagern haben reichlich Zeit und Möglichkeit gehabt, eine Wohnung zu erwerben und einer Haushaltführung bei offener Tür zu entgehen. Wer das behauptet, verwechselt in der Mehrheit der Fälle Ursache und Wirkung. In den Lagern befinden sich eben meist jene, die keine Kraft oder keine Gelegenheit gehabt haben, vom Rand der Gesellschaft in ihr Zentrum zurückzufinden.

Und dann ist da das Problem d er Alten, die einfach nicht mehr den Mut haben, von vorne zu beginnen. Hier wäre eine einmalige und großzügige Tat vonnöten. Im Interesse der Stadt Wien, die einen Namen zu verlieren hat und deren Verwalter einfach nicht dulden dürften, daß, während täglich an die 300 Kraftfahrzeuge neu angemeldet werden, .einige alte Menschen weiter in Barackenhaft gehalten werden.

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