Verfassungsgerichtshof - © Foto: picturedesk.com  / Willfried Gredler-Oxenbauer

Suizidbeihilfe als neues Recht?

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Am 24. September wird der Verfassungsgerichtshof öffentlich über die Zulassung von „Tötung auf Verlangen“ und „Beihilfe zum Suizid“ verhandeln. Ein Plädoyer dafür, die aktuelle Gesetzeslage beizubehalten.

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Am 24. September wird der Verfassungsgerichtshof öffentlich über die Zulassung von „Tötung auf Verlangen“ und „Beihilfe zum Suizid“ verhandeln. Ein Plädoyer dafür, die aktuelle Gesetzeslage beizubehalten.

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In Deutschland hat das Bundesverfassungsgericht mit seinem Urteil vom 26. Februar dieses Jahres viele überrascht – auch Expertinnen und Experten. Es hat Paragraf 217 des deutschen Strafgesetzbuches (in der Fassung vom 3. Dezember 2015) für nichtig erklärt: Besagte Bestimmung, die eine strafrechtliche Sanktion geschäftsmäßiger Beihilfe zum Suizid vorsah, sei mit dem deutschen Grundgesetz unvereinbar, also verfassungswidrig. Begründet wurde dies vom Bundesverfassungsgericht damit, dass das allgemeine Persönlichkeitsrecht laut Grundgesetz ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben als Ausdruck persönlicher Autonomie umfasse (vgl. Artikel 2, Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 1, Absatz 1).

In Deutschland war die Beihilfe zum ­Suizid an sich straffrei möglich. Als aber die Schweizer Vereine zur Unterstützung des Suizids („Dignitas“ und „Exit“) im Nachbarland Büros eröffneten, um den deutschen Markt auch finanziell zu nützen, hat der Gesetzgeber die geschäftsmäßige Beihilfe zum Suizid verboten. Eine Richtungsentscheidung, denn die großen Summen, die Menschen in den Schweizer Vereinen für Suizidbeihilfe ausgeben, wären dringend für die Finanzierung der Palliativmedizin und der Hospize nötig.

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Auch in Österreich haben daraufhin vier Personen beim Verfassungsgerichtshof ­Individualanträge gestellt, Paragraf 78 im Strafgesetzbuch, der in Österreich – wie in vielen anderen Ländern auch – Beihilfe zum Suizid unter Strafe stellt, als verfassungswidrig aufzuheben. Bereits in der Juni-Session des VfGH wurde das Thema „Tötung auf Verlangen“ („aktive Sterbehilfe“) und Suizidbeihilfe behandelt, nun wird es am 24. September erneut auf der Tagesordnung stehen.

Andere Rechtslage als in Deutschland

Doch es gibt einen Unterschied zwischen den Ländern: Dieser liegt sowohl in der Verfassung als auch in der langen einschlägigen Rechtstradition – und auch im Umfang des Verbots.
Zunächst: In Österreich gibt es keine dem Artikel 2 des deutschen Grundgesetzes vergleichbare Bestimmung. 1958 hat man hierzulande die Europäische Menschenrechtskonvention des Europarates (EMRK) ratifiziert und sie 1964 rückwirkend innerstaatlich in Verfassungsrang gehoben. Wobei in Artikel 2 dieser Konvention festgehalten wird, dass die Mitgliedsstaaten des Europarates (derzeit sind es 47) gewährleisten müssen, dass eine absichtliche Tötung eines Menschen nicht vorgenommen werden darf. In Artikel 8 heißt es dann: „Jedermann hat Anspruch auf Achtung seines Privat- und Familienlebens, seiner Wohnung und seines Briefverkehrs.“

Aus diesem Artikel 8 zu folgern, dass es Beihilfe beim Suizid ebenso geben sollte wie beim Schutz des Briefgeheimnisses und der Wohnung, scheint doch etwas verwegen – zumal unsere Rechtsordnung vielfach zum Schutz der Bürger auch bei geringerer Gefährdung in die persönliche Autonomie eingreift, wie beispielsweise bei der Helmpflicht, der Sitzgurtpflicht, aber auch beim Suchtmittelgebrauch (mit erheblichen Strafen für die beihelfenden Dealer).

Zudem sind die weiteren Entwicklungen im Europarat, dessen Mitglied Österreich ist, zu beachten. Im Jahr 1999 wurde auf österreichische Initiative die Empfehlung zum „Schutz der Menschenrechte und der Würde der Todkranken und Sterbenden“ mit großer Mehrheit von der Parlamentarischen Versammlung angenommen und seither mehrfach in der Judikatur des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte berücksichtigt. Erst kürzlich, im Mai 2020, wurde diese Empfehlung 1418/99 mit anderen einschlägigen Dokumenten des Europarates als Broschüre neuerlich ediert, auf die Webseite gestellt und so in Erinnerung gerufen.

Soll die Gesellschaft Beihilfe, Mithilfe, Nachhilfe zum Suizid akzeptieren – und noch dazu geschäftsmäßig? Oder soll sie Hilfe für die Bürger zum Leben gewährleisten?

Den Regierungen der Mitgliedsstaaten wird darin – nach Analyse der einschlägigen Hauptprobleme mit dem Sterben in unseren modernen Gesellschaften – Folgendes empfohlen:
• Vorrang in den Aufbau und Ausbau der Palliativpflege und von Hospizen zu legen
• dafür zu sorgen, dass niemand gegen seinen Willen einer medizinischen Behandlung unterzogen wird bzw. gegen seinen Willen weiterbehandelt wird und so ein leidvoller Sterbeprozess verlängert wird (also Autonomie als Abwehrrecht)
• dafür zu sorgen, dass Artikel 2 der Menschenrechtskonvention, nach dem eine
absichtliche Tötung nicht vorgenommen werden darf, ausdrücklich auch für Schwerkranke und Sterbende gilt. „Der Todeswunsch eines Sterbenden kann niemals gesetzliche Rechtfertigung für Handlungen sein, deren Ziel die Herbeiführung des Todes ist“, heißt es im letzten Satz der Empfehlung 1418/99.

In den Ausschüssen und Debatten der parlamentarischen Versammlung wurde klar, dass aus einem Abwehrrecht einer medizinischen Behandlung nicht einfach ein Anspruchsrecht gefolgert werden kann – schon gar nicht auf Tötung oder Beihilfe zur Selbsttötung. Wenn eine Gesellschaft Ärzten und anderen zubilligt, auf Wunsch zu töten oder bei der Selbsttötung Unterstützung zu gewähren, öffnet sie Tür und Tor für letztlich nicht kontrollierbaren subtilen Druck auf den Kranken, die Angehörigen und auch auf die Ärzte. In den wichtigen Erläuterungen zu diesem Menschenrechtstext des Europarates wurde auch klar festgehalten, dass Beihilfe zum Suizid den internationalen Dokumenten des ärztlichen Ethos widerspricht.

So wie viele Staaten hat Österreich eine sehr lange Rechtstradition, die Beihilfe zum Suizid verbietet. Diese bewährte österreichische Gesetzeslage wurde in ausführlichen parlamentarischen Enqueten (zuletzt im Jahr 2015) mit vielen Expertinnen und Experten mit langjähriger einschlägiger Erfahrung bestätigt. Sollte diese lange und bewährte Rechtstradition nun verfassungswidrig sein?

Gründlich zu diskutieren ist auch das Autonomieverständnis der Befürworter einer Einführung der Beihilfe zum Suizid. Die Anfänge der modernen Soziologie liegen in der Suizidforschung, etwa bei ­Émile Durkheims „Le Suicide“ von 1897, dessen empirische Studien zum Paradigma empirischer Soziologie wurden. Die Selbstbestimmung des Menschen geschieht nie im luftleeren Raum: Suizid ist ein eminent soziales Geschehen, wie die ganze Geistesgeschichte seit Aristoteles reflektiert. Und Suizid ist immer ein äußerst ambivalentes und oft tragisches Geschehen. Dazu soll die Beihilfe dem Sinn nach mit Artikel 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention im Einklang stehen? Wer kann zudem Beihilfe, Mithilfe und Nachhilfe (und damit Druck) beim Suizid im Einzelnen genau abgrenzen?

Begleitung nach Suizidversuch

Es bedarf einer klaren Entscheidung, in welche Richtung die Gesellschaft gehen soll: in jene einer Beihilfe-Mithilfe-Nachhilfe zum Suizid – oder eines klaren Schutzes des grundlegenden Gutes des Menschenlebens auch in schwierigen Situationen. Der Verfasser dieser Zeilen hat einige Menschen nach Suizidversuchen begleitet. Die Mühe, zu helfen, das Leben der Betroffenen neu zu ordnen, hat sich oft gelohnt. Die meisten Menschen, die einen ­Suizidversuch unternehmen, sterben nicht an Suizid. Soll die Gesellschaft Beihilfe, Mithilfe, Nachhilfe zum Suizid einfach ­akzeptieren – und noch dazu geschäfts-mäßig? Oder soll sie wirkliche Hilfe für die Bürger zum Leben gewährleisten?

Für die anstehende Entscheidung lautet die Frage folglich: Soll der österreichische Verfassungsgerichtshof dem Urteil des deutschen Bundesverfassungsgerichts folgen? Was wäre das für ein Zeitzeichen in Zeiten einer folgenreichen Pandemie und der offenbaren Vulnerabilität alter und kranker Menschen, das Verbot der Beihilfe zum ­Suizid für verfassungswidrig zu erklären? Die Hoffnung vieler Bürgerinnen und Bürger in unserem Land – und auch die meine – geht in eine andere Richtung: nämlich die lange Zeit bewährte österreichische Gesetzeslage beizubehalten.

Der Autor ist em. Univ.-Prof. für Moraltheologie und hat sowohl für den Europarat als auch für die EU gearbeitet.

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