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Wenn Menschen zu Sachen werden

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Im französischen Parlament liegt noch der Gesetzesentwurf 735, den die Nationalversammlung am 25. November des Vorjahres in erster Lesung angenommen hat. Sein Thema: der Umgang mit Lebendigem. Eine seiner Regelungen ist besonders bedenklich.

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Im französischen Parlament liegt noch der Gesetzesentwurf 735, den die Nationalversammlung am 25. November des Vorjahres in erster Lesung angenommen hat. Sein Thema: der Umgang mit Lebendigem. Eine seiner Regelungen ist besonders bedenklich.

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Dieser Entwurf enhält in seinem Paragraph 671 eine bemerkenswerte Regelung. Sie sieht vor, daß „ausnahmsweise” die Eltern eines tiefgefrorenen ungeborenen Kindes der „Beendigung seiner Konservierung” für „wissenschaftliche Untersuchungen” zustimmen können.

Zwar wird auch von „Bedingungen” für die Durchführung solcher Untersuchungen gesprochen. Wer sich diese aber ansieht (672-7) erkennt, daß es sich um ein Potem-kinsches Dorf handelt: Sie dürfen nur in genehmigten Einrichtungen vorgenommen werden und die. Themen der Arbeiten müssen veröffentlicht werden. Was letztlich keine Einschränkung bedeutet. Auch das Wort ausnahmsweise ist ein Feigenblatt, daß die Blöße der Ungeheuerlichkeit kaum verbirgt.

Jedermann weiß heute, daß eine Reihe von Wissenschaftern schon seit langem Experimente an ungeborenen Kindern durchführen. Mit diesem Gesetz spitzt sich die Sache aber zu. Jetzt wird das Ungeborene auch rechtlich zur Sache. Das Recht schützt Versuchstiere besser. Welten liegen zwischen dieser Norm und dem uralten Rechtsgrundsatz, den „nasciturus”, also den ungeborenen Menschen, so zu behandeln, als wäre er schon geboren.

In Frankreich wiederholt sich derzeit auf höchst demokratische Weise, was wir voll Verachtung dem Dritten Reich vorhalten: daß einer Kategorie von Menschen der Personencharakter aberkannt wird. Hoffentlich wird die neue Mehrheit im französischen Parlament diese Ungeheuerlichkeit korrigieren.

Geistig vorbereitet wurden solche unmenschliche Regelungen durch die „Rechtskunststücke” in der Abtreibungsfrage. Diesbezüglich ist das Erkenntnis des deutschen Bundesverfassungsgerichts vom Ende Mai zu erwähnen. „Der Spiegel” brachte die Lage auf den Punkt: „Eine Schwangerschaft darf bis zur zwölften Woche abgebrochen werden, allerdings erst nach ausführlicher Beratung der Schwangeren.”

Zwar hat der Gerichtshof den 1992 vom deutschen Bundestag beschlossenen neuen Paragraphen aufgehoben. Dieser bezeichnet nämlich Abtreibungen in den ersten drei Monaten nicht eindeutig als rechtswidrig. Der Gesetzgeber sei nicht frei, „den Schwangerschaftsabbruch über verfassungsrechtlich unbedenklich Ausnahmebestände hinaus als nicht rechtswidrig, also erlaubt, anzusehen”.

Das Gesetz muß also parlamentarisch neu behandelt werden. In Zukunft wird es (außer in Ausnahmefällen!) kein Geld mehr für Abtreibungen geben dürfen. Auch müsse die vor einer Abtreibung notwendige Beratung künftig eindeutig dem Schutz des ungeborenen Kindes dienen. Wenn die CDU und viele Abtreibungsgegner dies als Erfolg feiern, so kann ich offengestanden überhaupt nicht erkennen, worüber sie sich da freuen. Schließlich ist es gängige Praxis, die Unterminierung des Lebensschutzes mit hehren Beteuerungen einzuleiten (siehe Frankreich: „ausnahmsweise”).

Auch Österreichs Strafgesetz betont zunächst die Rechtswidrigkeit der Abtreibung, um im Gefolge den Lebensschutz der Ungeborenen durch Strafverzicht de facto aus dem Weg zur räumen. Die Folgen sind bekannt: Abtreibung gilt heute als „Recht” der Frau.

In gleicher Weise agierte der Unterausschuß des Europaparlaments, der 1991 die Einführung der Euthanasie empfahl. Da klang die Einführung der mörderischen Empfehlung auch beruhigend: „Sterbenden beizustehen, muß als eine der Aufgaben moderner Medizin angesehen werden”.

Erinnert sei auch an das kürzlich in Holland beschlossene Euthanasiegesetz: Zunächst grundsätzliches Verbot der Sterbehilfe - und gleich darauf Verzicht auf Strafe unter bestimmten Bedingungen. Der Erfolg: Eine verbreitet gehandhabte Praxis wird zwar verbal verurteilt, de facto aber sanktioniert.

Wer die Dinge nüchtern betrachtet, erkennt: Die verlogenen Abtreibungsregelungen haben einen Dammbruch in unserem Verständnis für Gut und Böse produziert. In der Frage des Lebensschutzes hat sich europaweit die geistige Haltung radikal verändert: Befragungen zufolge halten nur mehr 31 Prozent der Österreicher daran fest, man dürfe nicht abtreiben und nur 38 Prozent sind unbedingt gegen Euthanasie (in Holland nur zwölf, Belgien 21, Westdeutschland 30...)

Diesen Wertewandel spiegelt auch die Erklärung des Vorsitzenden der deutschen Bischofskonferenz, Bischof Karl Lehmann, in dem es heißt: „Das Bundesverfassungsgericht hat... geklärt, daß die... unantastbare Würde des Menschen auch dem ungeborenen Kind zukommt. Damit wird das Lebensrecht des ungeborenen Kindes eindeutig für die ganze Dauer der Schwangerschaft anerkannt... Die deutschen Bischöfe begrüßen diese eindeutige Entscheidung des Bundesverfassungerichts...”

Wäre da nicht eher Kritik angebracht? Auf diesem Hintergrund werden die europaweit stattfindenden gesetzlichen Änderungen verständlich. Aber wem kann wohl dabei sein, wenn wir uns unbeschwert auf den Weg in die Unmenschlichkeit begeben?

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