Neues Sterbeverfügungsgesetz: Der verfügbare Tod

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Das neue Sterbeverfügungsgesetz soll assistierten Suizid ab 1. Jänner in bestimmten Fällen straffrei stellen. Ein Paradigmenwechsel – und der Start eines gesellschaftlichen Experiments.

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Das neue Sterbeverfügungsgesetz soll assistierten Suizid ab 1. Jänner in bestimmten Fällen straffrei stellen. Ein Paradigmenwechsel – und der Start eines gesellschaftlichen Experiments.

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„Jeder Mensch hat eine eigene Schmerzgrenze. Wie weit möchte ich gehen?“ Diese Sätze schreibt Sarah Braun am 2. März 2020 an die FURCHE. Sie schreibt sie per Augenschlag – mit einem elektronischen Kommunikator, den sie mit ihren Pupillen steuert. Alles andere ist für die damals 28-Jährige längst unmöglich. Sarah Braun hat Amyotrophe Lateralsklerose (ALS). Assistierter Suizid erscheint als mögliche Option.

Wie weit möchte ich gehen? Diese Frage stellt sich am Lebensende längst in ungeahnter Radikalität. Je mehr die moderne Medizin „Sterben“ als ärztlichen Kunstfehler und „Sterbenlassen“ als Wagnis begreift, desto stärker wird das Pochen auf Autonomie. Zudem verliert in säkularisierten Gesellschaften die Unverfügbarkeit des Lebens grundsätzlich an Plausibilität.

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Das aufsehenerregende Urteil des Verfassungsgerichtshofs vom Dezember 2020 kam von daher nicht überraschend: Selbstbestimmung im Leben umfasse auch Selbstbestimmung im Sterben, dekretierten die Richter – und hoben das ausnahmslose Verbot von assistiertem Suizid per 1. Jänner 2022 auf. Dass man erst nun, buchstäblich in letzter Minute, einen neuen Entwurf eines "Sterbeverfügungsgesetzes" präsentiert und die Begutachtung gerade einmal drei Wochen (samt Herbstferien!) umfasst, ist ein „Skandal“, wie Diakonie-Direktorin Maria Katharina Moser in der ORF-„Pressestunde“ meinte. Einmal mehr offenbart sich hier der parlamentarische Stellenwert. Zugleich haben Justiz- und Verfassungsministerium mit ihrem „Dialogforum“ vom April ihr Bemühen demonstriert, alle wesentlichen Stimmen einzubinden und zwischen vorgeschriebener Liberalisierung und drohendem Missbrauch einen gangbaren Weg zu finden. Zwei ärztliche Aufklärungsgespräche und eine zwölfwöchige Nachdenkpause sollen den Sterbewunsch absichern. Bestehen Zweifel, braucht es auch eine psychologische Klärung.

Suizidbeihilfe für psychisch Kranke?

Dass diese nicht generell vorgeschrieben ist, verstört jedoch massiv. Ebenso die Öffnung des assistierten Suizids für psychisch Kranke. Fraglich bleibt auch, ob dieser Entwurf überhaupt verfassungsrechtlich hält: Jener Anwalt, der die bisherige Regelung angefochten hat, meldet bereits Bedenken an. Mit „Diskriminierung!“ lässt sich bekanntlich fast jeder Kompromiss torpedieren.

Auch die katholische Kirche steht vor der Herausforderung, ihre Haltung zum Suizid neu durchzudenken.

Klar scheint indes, dass sich das Bild vom Suizid dramatisch ändern wird. Galt er bisher als individuelle Tragödie mit verheerenden Folgen für die traumatisierten Hinterbliebenen, so tritt nun ein neuer Typus eines „guten“ Suizids hinzu, der einen Anspruch auf Rationalität und Respekt erhebt. „Wo wir bisher die Pflicht zum Widerstand hatten, könnten wir nun eine Beistandspflicht bekommen“, erklärte der katholische Moraltheologe Walter Schaupp den Paradigmenwechsel in der FURCHE. Auch die katholische Kirche stehe nun vor der großen Herausforderung, ihre Haltung zum Suizid als verfügbarem Tod neu durchzudenken.

Wie sich die Dinge weiterentwickeln, ist vorerst nicht abzusehen. Wird die Nachfrage nach Suizidbeihilfe dramatisch steigen? Wie wird die tatsächliche Praxis in konfessionellen Einrichtungen aussehen? Und werden die Gerichte bald auch Tötung auf Verlangen debattieren? Es sei ein „gesellschaftliches Experiment“ mit ungewissem Ausgang, meint Walter Schaupp.

Sarah Braun muss es nicht mehr miterleben. Sie ist am 15. März dieses Jahres gestorben – nicht durch assistierten Suizid, über den sie in ihrem Buch „Leben und gleichzeitig sterben“ nachgedacht hatte, sondern „friedlich im Kreis ihrer Familie“, wie es heißt. „Die Menschen sollen den Wunsch, ihrem Leben ein Ende zu setzen, nicht verspüren, weil die Politik versagt“, schrieb sie am 2. März 2020 mit ihren Augen. Dass diese Politik nun endlich auch die Mittel für Hospize und Palliativeinrichtungen erhöht – zumindest das hätte ihr gefallen.

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