Die zentrale Pflegefrage: „Wie willst du leben?“

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Durch die Pandemie sind Fragen nach guter Pflege in den Hintergrund gerückt. Doch jetzt müssen wir aus der Krise lernen: Der Mensch muss im Mittelpunkt stehen. Ein Gastkommentar.

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Durch die Pandemie sind Fragen nach guter Pflege in den Hintergrund gerückt. Doch jetzt müssen wir aus der Krise lernen: Der Mensch muss im Mittelpunkt stehen. Ein Gastkommentar.

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Sie sind ein wunder Punkt in der Coronakrise – jedenfalls waren sie einer: die Alten- und Pflegeheime. In der zweiten Infektionswelle war jeder zweite Covid-Todesfall ein Bewohner oder eine Bewohnerin eines Pflegeheims. Aktuell gibt es dort keine Übersterblichkeit. Die Infektionszahlen sind dank hoher Impfquoten um über 90 Prozent gesunken, viele Häuser sind virenfrei. Ein Aufatmen. Gleichzeitig sind die Pflegeheime aus den Schlagzeilen verschwunden, scheinen auch in der politischen Vergessenheit zu versinken. Dabei gäbe es genug, was unserer Aufmerksamkeit bedürfte.

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Zum einen leiden die Bewohner und Bewohnerinnen immer noch unter Isolation und Einsamkeit. Sie dürfen nach wie vor nur zwei Mal die Woche Besuch bekommen. Und das, wo sie sich in der Erwartung hatten impfen lassen, Ehepartner(in), Kinder und Nahestehende wieder öfter sehen zu können. Zum anderen sind da die Folgen der Coronakrise. Der Schaden, den Menschen mit Pflegebedarf durch die Isolation nehmen, wird immer deutlicher. Viele bauen physisch und psychisch ab. Depressionen nehmen zu, Demenzen schreiten schneller
voran, Lebenswille schwindet.

Pflegekräfte am Limit

Für das Pflegepersonal bedeutet die Krise: die fehlenden Kontakte kompensieren, unzählige Telefonate mit Angehörigen, Mehraufwand durch Hygienemaßnahmen und Tests, die eigene Gesundheit riskieren und das Privatleben zurückschrauben. 93 Prozent der Pflegenden sagen, die Herausforderungen seien in der Pandemie gestiegen. „Wenn die Krise vorbei ist, suche ich mir einen anderen Job“, kündigen immer mehr Pflegekräfte an. Und das, wo wir bis 2030 mindestens 75.000 zusätzliche Fachkräfte brauchen.

Durch Corona drohen auch Rückschritte in der Frage „Was heißt gute Pflege?“. In den letzten 30 Jahren hat sich ein Perspektivenwechsel vollzogen. Die Medizin ist nicht mehr die alleinige Leitwissenschaft, und Pflege ist mehr als „satt und sauber“, die seelische, soziale und spirituelle Dimension ist in den Blick gekommen. In mühevollen Schritten wurden Pflegeangebote und Wohnformen entwickelt, die den Fokus auf Gestaltung des Alltags, Selbstbestimmung und Teilhabe richten. Corona hat den Fokus auf virologische und infektiologische Betrachtungsweisen gelenkt, Fragen der ganzheitlichen Gesundheit sind außen vor geblieben. Maßnahmen zum Schutz von Pflegeheimbewohner(inne)n wurden verordnet, ohne sie zu fragen, Autonomie und Teilhabe sind auf der Strecke geblieben.

Jetzt wäre die rechte Zeit, die Krisenfolgen zu bearbeiten und aus der Krise zu lernen. Zumal eine Pflegereform ansteht. Doch um die ist es still geworden. Als im Herbst der Startschuss fiel, war von einer „umfassenden Pflegereform“ die Rede. Im Februar, als der Ergebnisbericht der „Taskforce Pflege“ präsentiert wurde, war diese geschrumpft auf Maßnahmen zur schrittweisen Verbesserung des Pflege- systems. Das verwundert, macht doch der demografische Wandel eine grundlegende Reform unabdingbar. Der Anteil der über 80-Jährigen an der Gesamtbevölkerung wird bis 2050 auf 13,5 Prozent steigen. Doch ist das Problem nicht nur ein quantitatives. Es liegt tiefer: Das System bestimmt das Angebot, nicht der Mensch. Menschen mit Pflegebedarf können sich im Wesentlichen nur zwischen Pflegeheim und mobiler Hauskrankenpflege entscheiden. Was fehlt, sind bedarfsgerechte Angebote wie Tageszentren, mehrstündige Tagesbegleitung zu Hause, Betreuung nur in der Nacht etc. Es gibt diese Angebote, aber nicht überall, und oft sind sie nicht leistbar.

Um die Pflegereform ist es still geworden. Dabei macht der demographische Wandel eine Reform unabdingbar.

Auch Pflegekräfte können nur zwischen mobil und Heim wählen, haben wenig Chance auf Abwechslung und Fachkarrieren. Und vor allem: Sie leiden unter Zeitdruck, unter Bürokratie, Dokumentation und vorgegebenen Standards. Es bleibt zu wenig Gestaltungsspielraum, um das zu tun, was die Langzeit- pflege zu einer erfüllenden Arbeit macht: Zuwendung und Beziehung, Gespräche und gesellige Aktivitäten. Und so müssen Pflegekräfte immer wieder hinter ihrem eigenen Anspruch, pflegebedürftige Menschen mit individueller Zuwendung zu begleiten, zurückbleiben.

Pflegelots(inn)en für Betroffene

Es braucht eine wirkliche Reform der Pflege. In deren Zentrum muss eine Frage, gerichtet an Menschen mit Pflegebedarf, stehen: „Wie willst du leben?“ Die Diakonie hat mit „SING – Seniorenarbeit Innovativ Gestalten“ ein Modell entwickelt, das von dieser Frage ausgeht. Pflegelots(inn)en überlegen gemeinsam mit den Betroffenen, wie diese leben wollen, welche Unterstützung sie dafür brauchen und welche Dienstleistungen es gibt. Darüber hinaus leiten die Pflegelots(inn)en die Bedarfe ihrer Klienten an Sozialorganisationen weiter, die gefordert sind, passende Angebote bereitzustellen. „Eingekauft“ werden können die Angebote mit einem sachleistungsbezogenen „Autonomiebeitrag“. Pflegegeldbezieher(innen) investieren einen Teil ihres Pflegegelds in diesen Autonomiebeitrag und bekommen noch etwas drauf. Damit erhöht SING die Wahlfreiheit von Menschen im Alter und setzt Impulse für die Entwicklung von Pflegeangeboten, die so bunt sind wie die Bedürfnisse der Menschen. Der Mensch muss im Mittelpunkt der Pflege stehen. Denn – frei nach Hippokrates: Es ist wichtiger zu wissen, was für ein Mensch Pflegebedarf hat, als zu wissen, was für einen Pflegebedarf ein Mensch hat.

Die Autorin ist Direktorin der Diakonie Österreich und evangelische Pfarrerin.

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