Die große Verdrängung
Pflegende Angehörige leisten Unglaubliches – und häufig Unaushaltbares. Sie haben sich mehr verdient als Wahlzuckerl und Überschriften. Zum Beispiel ein Gesamtkonzept.
Pflegende Angehörige leisten Unglaubliches – und häufig Unaushaltbares. Sie haben sich mehr verdient als Wahlzuckerl und Überschriften. Zum Beispiel ein Gesamtkonzept.
Ein Abwehrmechanismus, durch den tabuisierte oder bedrohliche Vorstellungen von der bewussten Wahrnehmung ausgeschlossen werden: Das nennt man in der Psychoanalyse gemeinhin Verdrängung. Schwäche, Verletzlichkeit, Abhängigkeit, Sterben: All das wird im Zweifel weggeschoben, bis es unausweichlich wird, bis ein naher Mensch betroffen ist – oder irgendwann man selbst.
Unter der Prämisse „irgendwann“ betrachten viele folglich auch die Frage nach wem „Wer?“ und „Wie?“ der eigenen Pflege. In vielen Familien steht diese Frage wie ein Elefant im Raum, doch ihn anzusprechen, verbietet sich aus Gründen der Pietät. Wenn es dann „so weit ist“, stehen die Angehörigen vor Herausforderungen, die sie nicht selten an den Rand ihrer Kräfte bringen. Oder darüber hinaus.
Kollektiv verdrängt wird freilich nicht nur im privaten Bereich, sondern auch in der Politik. Seit Langem ist klar, dass es im Bereich der Pflege ein radikales Umdenken braucht. Rund 460.000 Menschen beziehen derzeit in Österreich Pflegegeld, schon in zehn Jahren werden es 600.000 sein. Zudem werden heute zwar über 80 Prozent der Betroffenen zu Hause umsorgt (zumeist von Frauen), doch diese Säule bröckelt: Erstens, weil die Pflegenden selbst immer fragiler werden (die Hälfte ist über 60 Jahre alt, 90 Prozent leiden unter psychischen Belastungen); und zweitens, weil sich die Lebenskonzepte von Frauen gewandelt haben und ihre Verfügbarkeit und Bereitschaft für die zwar eminent wichtige, aber unbezahlte und häufig unbedankte Pflegeaufgabe schwindet.
Überforderung, Isolation und Behördenkämpfe
Wie schwierig schon jetzt die Lage der knapp einen Million Menschen (darunter 42.000 Kinder und Jugendliche) ist, die sich um Verwandte kümmern, wurde vergangene Woche am Nationalen Aktionstag für pflegende Angehörige deutlich. „Wir fühlen uns allein gelassen“, klagte eine Mutter eines behinderten Kindes – und brachte damit das vordringliche Gefühl Hunderttausender auf den Punkt. Nur ein Drittel der Pflegenden erhält Unterstützung durch mobile Dienste. Dazu kommt soziale Isolation. Als Draufgabe beschert ihnen ein offensichtlich überfordertes System den täglichen Kleinkrieg mit Behörden.
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