Leib- & Seelsorge: Heilende Nähe

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Die Pflege des Körpers allein wird den Menschen in Altenheimen oder Krankenhäusern meist nicht gerecht. Ziel ist die Ermutigung zum Leben und die Gelassenheit gegenüber der Lebensgrenze.

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Die Pflege des Körpers allein wird den Menschen in Altenheimen oder Krankenhäusern meist nicht gerecht. Ziel ist die Ermutigung zum Leben und die Gelassenheit gegenüber der Lebensgrenze.

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Es ist halb zwölf - Essenszeit. Zu viert sitzen die Heimbewohner an ihren Tischen. Eine Frau starrt vor sich hin, eine andere wird von der Pflegerin mit Suppe gefüttert. Nur einer der wenigen Herren durchbricht mit kleinen Scherzen das Schweigen im Speisesaal und entlockt seinen Tischdamen dann und wann ein Schmunzeln. Der alte Mann hat gut lachen: Als einer von nur zehn männlichen Bewohnern im Grazer "Haus der Barmherzigkeit" ist er gegenüber den 126 Frauen der Hahn im Korb.

Doch auch den vielen Damen in den sieben Abteilungen mit Namen wie "Kaiser Josef", "Kaiserin Sissi", "Regenbogen" oder "Sonnenschein" braucht das Lachen nicht zu vergehen: Bastel- und Handarbeitsrunden stehen zum Angebot, Schach- und Schnapser-Treffen sorgen für Abwechslung. Als besondere Zuckerl gelten im Sommer der wöchentliche Buschenschank und die Mariengrotte, erzählt Direktorin Lilimarie Nossek: "Die Leute kommen oft in einem sehr schlechten Zustand zu uns. Wir versuchen dann durch reaktivierende Pflege nach Böhm ihre Situation zu verbessern." Ausgangspunkt dieser Methode ist die persönliche Biographie.

Nach dem Motto "Wer rastet, der rostet" werden die durchschnittlich 85-jährigen Bewohner ständig herausgefordert. Vom selbstständigen Kochen bis zum Bebauen eines Maisackers kann vieles Sinn stiften, weiß auch die Leiterin der Abteilung "Regenbogen", Schwester Marion Wolf: "Psychische Probleme äußern sich manchmal so, dass jemand nicht essen will. Hier muss man schauen, was die Lebensaufgabe, der Lebenssinn war, und dann versuchen, entsprechende Aufgaben für denjenigen zu finden."

Zurück zur Kindheit

Der Schlüssel zur Seele liegt oft in der Kindheit: Ein Kinderlied kann so manche Erinnerungen wach rufen. Vor allem die religiösen Traditionen sind zu hinterfragen, so Direktorin Nossek: "Bei bekannten Gebeten und Liedern während der Messe hören auch unruhige Bewohner oft eine Stunde lang zu."

Früher haben sich die Barmherzigen Schwestern des heiligen Vinzenz von Paul sowie ein Hausgeistlicher um Leib und Seele der Bewohner gesorgt. Nunmehr kommt der Seelsorger von außen: Ein Dominikaner feiert jeden Mittwoch und Sonntag mit den alten Menschen die Eucharistie. Und der "Sonntagskreis" - zwölf Freiwillige aus den umliegenden Pfarren - hilft mit, die Leute in die Kapelle zu bringen.

Wie in Graz legt man auch im kirchlichen Pflegekrankenhaus "Haus der Barmherzigkeit" in Wien großes Augenmerk auf eine Kombination von Leib- und Seelsorge. Seit 1996 wird hier die Praxis der "Validation" nach der amerikanischen Sozialwissenschaftlerin Naomi Feil angewendet. Ziel dieser Methode ist die vermehrte Wertschätzung im Umgang mit geistig verwirrten Patienten. "Wir haben eine Patientin, die von Zimmer zu Zimmer läuft und sich aufregt, wenn ein Mistkübel schief steht", erzählt etwa der Leiter des Hauses, Christoph Gisinger. Früher hätte das Personal ein solches Verhalten korrigiert oder schlichtweg ignoriert. "Heute sehen wir solche Dinge positiv", freut sich Gisinger. "Die Patientin will einfach eine bestimmte soziale Rolle wahrnehmen. Und wir spielen nun mit."

Wie ein Traum hat auch eine verwirrte Äußerung oder Handlung ihre Ursachen. Durch eine spezielle Gesprächstechnik wird auf die biographischen Auslöser eingegangen und so die Lebensqualität der Patienten wie auch die Situation des Personals und der Angehörigen verbessert. Ein Validationsanwender urteilt nicht über das Verhalten dementer, "verkalkter" Personen, sondern er akzeptiert die körperlichen und intellektuellen Einbußen des Alters. Dadurch lässt sich nicht nur die Würde verwirrter Menschen bewahren: Auch aggressive Durchbrüche nehmen durch einfühlende und ernstnehmende Gespräche deutlich ab.

Pflege und Seelsorge

Bei knapp 500 geriatrischen Patienten erfordert die Praxis der Validation allerdings ein zahlreiches, gut ausgebildetes Personal. Das Ziel Gisingers ist ehrgeizig: "In drei Jahren soll die Hälfte der 350 Pflegemitarbeiter in Validation ausgebildet werden." Von einem Wochenende bis zu vier Wochen spannt sich der zeitliche Rahmen einer solchen Ausbildung.

Vor allem nicht aufgearbeitete Fragen prägen das Vorgehen bei der Validation: Was ist der Sinn des Lebens? Welchen Sinn hat Leid? Eine besondere Rolle spielt die Konfrontation mit dem eigenen Sterben. Das in Validation ausgebildete Pflegepersonal sollte deshalb eng mit den Seelsorgern kooperieren, wünscht sich Christoph Gisinger. Im "Haus der Barmherzigkeit" ist man auf diesem Gebiet Pionier: Hier ist die Validation auch in das pastorale Angebot eingebettet - von Stationsgottesdiensten über Krankensalbungen, Beicht- und Bußfeiern bis zu pastoralen Einzel- und Gruppenbesprechungen. "Gerade bei Stationsgottesdiensten können wir beobachten, dass Patienten aus ihrer Zurückgezogenheit erwachen", weiß Gisinger. Bestätigt sieht er sich auch durch eine Befragung der Patienten: 94 Prozent gaben demnach an, religiöse Fragen wie "Lebenssinn", "Leben nach dem Tod" oder "Gott" würden im Rahmen der Validation einen hohen Stellenwert einnehmen.

Ist die Präsenz von Seelsorgern in Altenheimen oder Pflegekrankenhäusern selbstverständlich und erwünscht, so sieht die Situation in den "Akutkrankenhäusern" nicht immer so rosig aus. "Seelsorger gelten oft eher als notwendiges Übel, außer bei der Sterbebegleitung oder auf der Palliativstation", klagt die evangelische Pfarrerin Karin Engele aus Graz. Oft würden Seelsorger erst im Todesfall gerufen und durch diese - ursprünglich katholische - "Versehpraxis" zum formalen "Stempel fürs Himmelreich".

In der Seelsorge für Kranke gehe es aber vor allem darum, zum Leben zu ermutigen, aber zugleich Gelassenheit gegenüber der Lebensgrenze zu vermitteln, betont Engele: "Als wesentliche Voraussetzung dafür muss man jedoch die innere und äußere Situation eines Menschen - unter den Bedingungen der heutigen Medizin - kennen." So sind unterschiedliche Zugänge in der Seelsorge notwendig, je nach der Schwere des Leidens. "Eine Krankheit, die unausweichlich zum Tod führt, bindet alle körperlichen und seelischen Kräfte vollkommen," weiß Engele aus eigener Erfahrung.

Hier würden vor allem rituelle Handlungen helfen, etwa die Handauflegung, Segnung, Salbung oder ein Kreuzzeichen. Oft lassen Krankheiten auch intensiv über die Sinnhaftigkeit des bisherigen Lebens nachdenken. Ein seelsorgliches Gespräch über die Person und ihre Beziehungen ist hier hilfreich. Aber Krankheit könnte genauso Aggressivität auslösen oder auch zu einer kindlichen Einpassung, einer Regression führen.

Nötig sei in jedem Fall körperliche und verbale Zuwendung, betont Engele: "Auch in der Bibel begegnet uns dieser ganzheitliche Ansatz. Jesus wendet sich den Menschen zu, er greift sie an." Von den Seelsorgern selbst erwartet sie sich zumindest eines: "Sie dürfen keine Angst vor dem Tod haben. Seelsorger, die sich mit dem eigenen Sterben nicht auseinandergesetzt haben, sollte man gar nicht ins Krankenhaus lassen."

Auch in der Abteilung "Regenbogen" im Grazer "Haus der Barmherzigkeit" weiß man um das Leiden und den Tod. Dennoch ist übertriebenes Einfühlen nicht immer hilfreich und im Pflegeberuf sogar hinderlich, weiß Schwester Marion Wolf nach achtjähriger Erfahrung: "Mitleid muß man ablegen. Wenn man mitleidet, leiden schließlich zwei."

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