Heime der Einsamkeit?

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Die Covid-19-Pandemie hat soziale Isolation und Vereinsamung in Alten- und Pflegeheimen verstärkt. Kollateralschaden oder Fehler im System? Ein Gastkommentar von Martin Nagl-Cupal.

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Die Covid-19-Pandemie hat soziale Isolation und Vereinsamung in Alten- und Pflegeheimen verstärkt. Kollateralschaden oder Fehler im System? Ein Gastkommentar von Martin Nagl-Cupal.

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Obwohl schon mit dem Programm der aktuellen Regierung ein starkes Augenmerk auf die Pflege gelegt wurde – Stichwort „Pflegereform“ –, hat die Covid-19-Pandemie dazu beigetragen, dass dieses Thema endlich in der Mitte unserer Gesellschaft angekommen ist. Dabei wurde auch verstärkt auf die Situation von alten und pflegebedürftigen Menschen geblickt.

Ein Thema, das in diesem Zusammenhang zivilgesellschaftlich sehr stark wahrgenommen wurde, war die zur Infektionsprävention vorgenommene Abschottung und Isolierung von hochbetagten Menschen in Alten- und Pflegeheimen. Angesichts der vergleichsweise niedrigen Infektions- und Mortalitätsrate in diesem Setting ein Erfolg. Doch zu welchem Preis?

Nina Strasser hat diese Frage in einem Beitrag in der letzten FURCHE aufgeworfen. Zu Recht klagt sie die mit Besuchsverboten und Abschottung im Zusammenhang stehenden (oder vermuteten) negativen Auswirkungen wie Menschenrechtsraub in Form von Freiheitsentzug an – und vor allem die erlittene Einsamkeit der Menschen im Heim. Wobei man betonen muss, dass nicht nur alte, sondern auch junge Menschen mit Behinderung in einem Heim leben können, für die diese Auswirkungen ebenfalls zutreffen. Es gab und gibt diesbezüglich etliche Beschwerden gegenüber Heimträgern, teilweise sind Gerichtsverfahren anhängig. Fraglich ist für mich, ob diese Auswirkungen, vor allem die Vereinsamung, als Kollateralschäden dem Effekt der Covid-19-Pandemie zuzuschreiben – oder nicht ohnedies Merkmale der stationären Langzeitpflege sind.

Isolation als Gesundheitsrisiko

Soziale Isolation (ein objektiver Zustand, über wenige soziale Beziehungen oder soziale Kontakte zu anderen Menschen zu verfügen) und Einsamkeit (ein subjektives Gefühl der Isolation) sind ernsthafte und teilweise unterschätzte Risiken für die Gesundheit. Dazu gehört ein erhöhtes Risiko für Depressionen, Ängste bis hin zu Selbstmordgedanken. Einsamkeit kann auch ein Risikofaktor für kognitive Verschlechterung und das Fortschreiten von Alzheimer-Demenz sein. Und soziale Isolation ist ein Risikofaktor für die Entwicklung von Einsamkeit.

Umgekehrt stellt das Führen sozialer Beziehungen nicht sicher, dass keine Einsamkeit entsteht, denn die soziale Beziehung muss auch sinnvoll sein. Soziale Isolation und Einsamkeit betreffen einen wesentlichen Teil der älteren Bevölkerung, sind in der stationären Langzeitpflege aber häufiger anzutreffen als außerhalb. Einige Studien gehen davon aus, dass die Prävalenz schwerer Einsamkeit unter älteren Menschen ohne kognitive Einschränkungen in Heimen doppelt so hoch ist wie unter den zu Hause lebenden Menschen. Unerfülltes Bedürfnis nach sinnvollen Beziehungen und der Verlust der Selbstbestimmung aufgrund der Institutionalisierung spielen bei dem Gefühl der Einsamkeit eine entscheidende Rolle. Dies wurde während der Covid-19-Pandemie zweifellos verstärkt, indem die Balance zwischen Sicherheit und Lebensqualität bzw. Autonomie empfindlich gestört wurde.

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