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Digital In Arbeit

Auch so machen wir uns krank

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Schauplatz Arbeitswelt: Wir stehen an einer Wende - auch in diesem Gesellschaftsbereich. Die sozialen Leistungen der letzten hundert Jahre haben die Ausbeutung des Menschen durch die Arbeit gebannt und klassische Berufskrankheiten können heute durch entsprechende arbeitshygienische Maßnahmen weitgehend verhütet werden. Allerdings werden immer noch 150.000 Arbeitsunfälle jährlich gemeldet, wovon 600 tödlich verlaufen.

Dennoch: Andere Probleme, andere Krankheiten und neue Ursachen für Krankheit treten gegenwärtig in unser Bewußtsein. Neben beruflich bedingten Hauterkrankungen, Infektionskrankheiten und Hörschädigungen treten mehr und mehr psychische, emotionale Belastungen in den Vordergrund. Zwar kann schweres Arbeitsleid weitgehend verhindert werden, jedoch ist unser Arbeitssystem nur in sehr eingeschränktem Maße in der Lage, Arbeitnehmern Befriedigung, Selbstbestätigung und persönliche Entfaltung zu bieten. Dieser Mangel aber erzeugt Unlust, Resignation, Depression und in weiterer Folge psychische wie physische Störungen. Man denke nur an die starke Zunahme von Herz- und Kreislaufbeschwerden.

Monotonie und extreme Arbeitsteilung gehören zu den markantesten Merkmalen unserer Arbeitswelt. Der Schweizer Ergonom Prof. Etienne Grandjean erkennt in sich immer wiederholender gleichförmiger Arbeit eine Unterbelastung des Menschen; diesese führe neben Leistungsabfall und Reduzierung der intellektuellen Fähigkeiten zu Ermüdungserscheinungen und starken psychischen Belastungen.

Zahlreiche Symposien und Organisationen befassen sich seit Jahren mit dem komplexen Problemkreis der Arbeitsmedizin. So auch die ÖVP am Mittwoch dieser Woche anläßlich ihrer dritten Gesundheitskonferenz mit dem Generaltitel „Gesundheit und Arbeit“.

Während die Sozialisten, so ÖVP-Sprecher Günther Wiesinger, in der „Erringung der gesellschaftlichen Verfügung über Produktionsmittel“, in der Stärkung politischer Arbeit in den Betrieben und zu guter Letzt in der Einbeziehung der Betriebe in die Volksmedizin - mit anderen Worten in der Sozialisierung des Eigentums und im staatlichen Gesundheitsdienst -den Weg zur Aufhebung von Inhumanität am Arbeitsplatz sehen, betrachtet die ÖVP diese Vorstellungen als „utopische Erfolgserwartungen“ und erkennt eine weit größere Chance darin, über Bewußtseinsbildung aller am Arbeitsprozeß Beteiligten zu echter Partnerschaft zu gelangen und durch vielfältige Anreize die Gesellschaft selbst zur Entwicklung von menschengerechten Arbeitsmodellen zu motivieren.

Dem zugrunde hegt die These der Ergonomie - Anpassung der Maschine an den Menschen und Verhinderung der Umkehrung dieses Verhältnisses. In diesem Zusammenhang gelte es, so Prof. Dr. Wilhelm Auerswald vom Physiologischen Institut der Universität Wien, das der gesamten Arbeitswelt auch heute innewohnende Zwanghafte zu reduzieren. Der Zwang nämlich sei Erreger vieler psycho- wie physiologischer Erkrankungen.

Aus dieser Erkenntnis tritt auch die ÖVP für die Förderung von Klein- und Mittelbetrieben als Stätte überschaubarer, kleinerer Aufgabenbereiche ein, in denen sinnzerstörende Zerlegung des Arbeitsprozesses weitgehend verhindert werden kann: Denn infolge der Ganzheitlichkeit solcher Organisationsformen kann größerer persönlicher Freiraum und Teilhaben am Geschehen vermittelt werden.

Gesundheitssprecher Wiesinger fordert anlaßlich der erwähnten ÖVP-

Enquete in Erfüllung des Partnerschaftsgedankens enge Zusammenarbeit zwischen Betriebsleitung, Betriebsrat und Betriebsarzt zum Abbau gesundheitsschädigender Einflüsse am Arbeitsplatz. Betriebsärzteausbildung, Ausbau der Lehrkanzel sowie Fachärzte für Arbeitsmedizin seien vorrangige Bedürfnisse. Hier unterscheiden sich die konkreten Vorschläge der Volkspartei wenig von jenen des SPÖ-Programmentwurfes; um so eher könnte also auch soziale Partnerschaft wirksam werden.

Neben Unsicherheit am Arbeitsplatz

- gerade jetzt infolge drohender Arbeitslosigkeit ein akutes Problem, das aber grundlegend nur im Bereich der Wirtschaftspolitik gelöst werden kann

- erscheint der sogenannte „Pensionsschock“ als hoher Krankheitserreger: Bei Fehlen von Beanspruchung werde der Gesamtorganismus über psychosomatische Prozesse krank. Entzug von Arbeit bedeute Entzug von Sinnerfüllung. Die ärztliche Forderung müßte demnach lauten: Einführung einer gleitenden Pensionierung (etwa Teilzeitregelung) mit persönlicher Wahlmöglichkeit des Pensionsantrittes innerhalb eines langen Zeitraumes.

Wissenschafter und Unternehmer wünschen sich seit langem eine Einrichtung zur Koordinierung ihrer arbeitsmedizinischen Erkenntnisse. Minister Hertha Firnberg hat am Nationalfeiertag 1976 aus Anlaß des Symposions „Humanisierung der Arbeitswelt“ die Schaffung eines solchen „Zentrums für arbeitswissenschaftliche Forschung“ zugesagt. Als Drehscheibe sollte es fungieren „zwischen Universitäten, Industrie, Gewerkschaften, Sozialversicherungsträgern und zuständigen Ministerien“. Auf telefonische Anfrage bei den zuständigen Stellen wußte man nichts über den Verbleib dieses Zentrums, erinnerte sich vage an einige Besprechungen oder aber - wie etwa von der Sektion Forschung des Wissenschaftsministeriums zu vernehmen war -: Man könne keine Auskunft geben, als gebranntes Kind bitte man um schriftliche Eingabe diesbezüglicher Fragen.

Angesichts des herannahenden „Tages der Arbeit“ ist es besonders bedauerlich, daß seitens der Regierungspartei offensichtlich bisher versäumt wurde, auf dem Wege von Zusammenarbeit und Erfahrungsaustausch aller betroffenen Institutionen bestmögliche Einsichten in arbeitswissenschaftliche Aspekte zu gewinnen und in weiterer Folge gesundheitsfördernde Modelle in die Praxis umzusetzen.

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