6908013-1980_50_13.jpg
Digital In Arbeit

Diplom - Senioren?

Werbung
Werbung
Werbung

Erwachsenwerden ist längst in einen institutionalisierten Trainingsprozeß eingebettet, der mehr als zwei Jahrzehnte umfassen kann und von der Vorschule bis zur Universität reicht.

Es ist nur konsequent, wenn jetzt auch das Altwerden in die Hände sorgender Experten gelegt wird. Altenbildung ist (nach der Schulbildung, Berufsbildung, Erwachsenenbildung) das Gebot der Stunde.

Damit ist man fraglos bei einem der Kernpunkte der Forderung nach Altenbildung. Keine Frage, daß Altenbildung im Interesse der alten Menschen liegt, keine Frage, daß die „volle Teilhabe am Leben auch im Alter" ein bedeutsames Ziel ist. Aber das Interesse, das hinter den Forderungen nach Altenbildung steht, ist eben auch das der Bildungsinstitutionen.

Wer kriegt die Alten? Wem wird es gelingen, sich diese neue Klientel zu erschließen? - sind doch die alten Menschen ein großes Potential an Bildungskonsumenten.

Da viele alte Menschen von Funk-tionslosigkeit, Vereinsamung und Langeweile bedroht sind, paßt das Interesse der Bildungsinstitutionen an neuer Kundschaft und die Schwierigkeiten alter Menschen gut ineinander.

Bislang waren Schulungsprozesse, in denen man lernte älter zu werden, jedenfalls nicht üblich. In wessen Interesse also wird die Forderung nach institutionalisierter Altenbildung erhoben? Sind die gesellschaftlichen Verhältnisse so verändert, daß tatsächlich die alten Menschen ihr Altwerden nur noch mit der Hilfe von Experten bewältigen können? Oder sind wir Zeugen eines Prozesses, in dem sich die „professionellen Händler ... mit Bildung" ein neues Areal für ihre Expertokratie erobern, indem sie den alten Menschen die Fähigkeit, selbständig zu altern, bestreiten, sie also entmündigen und sie dazu bringen, sich nur als „Diplom-Pensionäre" noch den Alltagsproblemen gewachsen zu fühlen?

Die absehbare Institutionalisierung der Altenbildung ist aber nicht nur deshalb problematisch, weil sie ein Stück Entmündigung der alten Menschen mit sich bringen könnte, insofern als man sich künftig erklären lassen muß, wie man „richtig" altert. Sie ist auch deshalb problematisch, weil sie zugleich den Weg der alten Menschen in die Apartheid verfestigt. Altenbildung heißt ja Einrichtung von Bildungsprozessen, in denen Alte vorzüglich auf Altersgefährten stoßen. Institutionalisierte Altenbildung wird es schwer haben, der Gefahr zu entgehen, durch Altenbildung die alten Menschen ein Stück weiter zu isolieren.

Die Frage nach der Notwendigkeit von Altenbildung ist damit keineswegs erledigt. Die Hinweise auf einen möglichen Mißbrauch institutionalisierter Altenbildung durch Experten können nicht überdecken, daß alte Menschen in unserer Gesellschaft mit Schwierigkeiten konfrontiert sind (Einsamkeit, Diskriminierung, Armut). Hier gilt es, alternative Handlungsmöglichkeiten zu finden und zu realisieren. Dabei kann Altenbildung hilfreich sein. Die Hauptschwierigkeiten der alten Menschen sind wohl in zwei Grundproblemen zu lokalisieren:

• Die Entwicklung unserer Industriegesellschaft zerstört Formen informeller Versorgung (Familie, Nachbarschaft) und ersetzt sie durch institutionelle Versorgung, was eine zunehmende Abhängigkeit von zentralisierten Dienstleistungen zur Folge hat.

• Diese Entwicklungen treffen bei den jetzt alten Menschen vielfach auch eine adäquate psychische Struktur. Die Sozialisation alter Menschen ist hochgradig an autoritären Verhaltensmustern orientiert. Apathie, Zufriedenheit und die Bereitschaft, sich Expertenanweisungen zu fügen, sind stark ausgeprägt.

Die Suche nach Möglichkeiten alternativer Altenbildung setzt deshalb da ein, wo von den alten Menschen selbst Durchbrechungen dieser Dispositionen „Apathie" und „Abhängigkeit" ausgehen. (Die Stichworte zur Konzeption der Altenbildung also geben die alten Menschen selbst.) Dabei trifft man auf sehr verschiedene Versuche, Abhängigkeit zu verringern und Apathie zu überwinden. Von der Seniorenwohngemeinschaft bis zum Uberregionalen Altenschutzbund reicht das Spektrum der Alteninitiativen. Die Vielfalt der Selbsthilfeversuche in der Bundesrepublik überrascht:

• Initiativen, die um die Uberwindung kommunikativer Probleme zentriert sind (Clubs, Diskotheken etc).

Initiativen, die sich um Selbsthilfe bei sozialen Schwierigkeiten bemühen (Nachbarschaftshilfen etc).

• Initiativen, die auf die Durchbrechung politischer Ohnmacht der alten Menschen gerichtet sind (Altenverbände etc.).

Diese Alteninitiativen formulieren einen „Rahmenplan Altenbildung", der nicht der Ausdehnung von Betreuungsinstitutionen Vorschub leistet. Altenbildung wird so als Initiation von Selbsthilfe konzipiert!

Altenbildung muß sich angesichts der Randlage der alten Menschen in erster Linie auf eine Auseinandersetzung mit sozialen Diensten konzentrieren. Sozialpolitik (gerade auch sozialpolitische Leistungen für die alten Menschen) ist im Wohlfahrtsstaat vor allem auf kompensatorische Leistungen abgestellt. Sie ist konzentriert auf die Linderung zuvor erzeugter Nöte.

Statt solcher kompensatorischer wäre vorbeugende Sozialpolitik erforderlich. Das heißt zum Beispiel: Erhaltung beziehungsweise Neukonstruktion nachbarschaftlicher Organisation. Die nachbarschaftliche Organisation kleiner Netze zielt nicht nur auf die Übernahme sozialer Aufgaben für alte Menschen ab.

Kommunikation, Umgang mit Menschen anderer Generationen, Vergnügen und Feier sind selbstverständliche Zutaten für entstehende Nachbarschaft. Aber die Umkehrung ist wichtig: Altenbildung kann dann nicht heißen: Angebote von Hobbies und Beschäftigungstherapien zur Bewältigung von zuviel Freizeit; sondern Altenbildung initiiert die Produktion von Nachbarschaft und ermöglicht so dem alten Menschen, wieder Subjekt oder „Nächster" zu sein.

Prof. Gronemeyer leitet das Institut für Soziologie der Justus-Licbig-Universität in Gießen. Dieser Beitrag ist den „Materialien zur Politischen Bildung" Heft 4/1979 entnommen.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung