6600287-1953_33_10.jpg
Digital In Arbeit

Um die Gesundheit der Seele

Werbung
Werbung
Werbung

Schon das Wort Psychische Hygiene birgt in sich einen zweifachen Sinn. Es will einmal besagen, daß Fürsorge und Vorsorge auf den Schutz aller derjenigen abzuzielen haben, die} sei es aus Anlage, sei es durch Schicksal und Umwelt, sei es durch das Zusammenwirken aller dieser Faktoren besonders gefährdet sind, seelisch zu erkranken oder wieder zu erkranken; das sind also vor allem die Minderbegabten, die Psychopathen, die Epileptischen, die Süchtigen, aber auch die Verwahrlosten, die Schwererziehbaren und letztlich sogar gewisse, vorwiegend jugendliche Kriminelle und noch manche andere Gruppen von Grenzfällen; und es sind natürlich nicht zuletzt die mehr oder weniger ausgeheilten Geisteskranken, besonders die einstigen Anstaltsinsassen unter ihnen. Die andere Aufgabe aber ist die Obsorge für die seelisch Gesunden und gesund Veranlagten im Sinne ihrer Bewahrung vor Verfall in seelisches Kranksein oder in krankhaftes seelisches Reagieren.

Seit Jahrzehnten werde ich — ganz im Geiste unseres großen Meisters Wagner-Jauregg — nicht müde zu unterstreichen, daß ich diese zweite Aufgabe als die vornehmste Aufgabe aller Seelenhygiene ansehe, jener seelischen Diätetik, wie sie vor mehr als einem Jahrhundert gerade hier in Wien Feuchtersieben verkündet hat, den wir im Sinne von O. Kauders den Kirchenvater moderner wissenschaftlicher Psychohygiene nennen dürfen. Diese meine Stellungnahme versteht sich vielleicht aus dein tiefgreifenden bevölkerungspolitischen Notstande gerade der Mitte Europas schon seit den Tagen nach dem ersten Weltkriege, der seither ein noch ungeheuer viel größerer geworden ist: Es wäre aber nicht tatsachengerecht, wollte man verkennen, daß, gleichfalls schon seit Jahren, auch im englisch sprechendem Kulturkreise das nämliche Postulat vertreten wird. Von gewichtiger psychiatrischer Seite — Bon-h ö f f e r — ward bereits vor Jahren darauf hingewiesen, daß Fürsorge für die seelisch Anfälligen und Gefährdeten ohnehin von ehedem schon den Psychiatern am Herzen gelegen habe, und es ist — in diesem Sinne — die Herauskristallisierung einer besonderen Psycho-hygienebewegung in solch engerem Sinne da und dort anfänglich mit einer, sei es auch mehr zwischen den Zeilen zum Vorschein gelangender Skepsis hingenommen worden. In sinnverwandter Ergänzung hat sich ein Schweizer Autor, Oberholze r, und hat sich auch Wagner-Jauregg gegen Bestrebungen gewendet, Fürsorge und Mittel in solchem Ausmaße für die psychischen Minusvarianten aufzuwenden, daß dadurch zwangsläufig die mindestens ebenso gemeinnotwendige Sorge um die phmariantischen Gesunden und deren Bewahrung vor Schäden gefährdet würde. Diese Bedenken schienen mindestens für den europäischen Raum gewiß nicht von vorneherein unbegründet, zumal unverkennbar ist, daß der gewaltige Auftrieb, den die moderne Psychohygiene von Amerika her erfahren, und daß die gewaltige Organisation derselben, ein Verdienst vor allem der englisch sprechenden Völker — wir anderen können für beides nur tiefste Dankbarkeit fühlen —, nun einmal in erster Linie eben vor allem den' seelisch Morbiden zugute kam und kommt, theoretisch, literarisch und vor allem in der praktischen Auswirkung.

Daß dies nun der Fall ist, muß im Ganzen als ein Glücksfall gewertet werden angesichts der schweren Schäden, die aus dem Fehlen solcher Obsorge nicht nur den Anfälligen und Morbiden selbst, sondern auch der Allgemeinheit erwachsen können und erwachsen sind: Mühe und Mittel, die zu deren Behebung aufgewendet werden, sind nicht als vergeudet zu betrachten, sie dienen, wie H. H o f f einmal ausgeführt hat, aufs wirksamste der Gemeinschaft, auch ökonomisch gewertet, und so indirekt auch deren gesunden Gliedern. Abel Voraussetzung dafür ist, daß diese letzteren nicht vergessen oder auch nur, in etwa; vernachlässigt werden: das kostbarste Kapital jeder Gemeinschaft ist der Mensch, hier abei wiederum in vorderster Linie der -gesund veranlagte und gesund gebliebene Mensch, den demnach jedwede vorbeugende Medizin, also auch die psychische Hygiene, mii besonderer Liebe und Sorgsamkeit zu betreuet hat; heute, wo der Bestand an solchen Men sehen so sehr zusammengeschmolzen und jede: davon wiederum Lasten und Risken jegliche Art mehr denn je zuvor zu tragen hat, nocl ganz besonders.

Darum möchte ich gerade aus Anlaß der in den Mauern Wiens tagenden internationalen Vereinigung psychischer Hygieniker erneut urgieren, diese vordringliche Aufgabe der psychischen Hygiene nicht zu übersehen. Mir scheint es vor allem notweridig, Gesundes gesund zu erhalten, gerade auch s e e-lisch Gesundes. Darauf soll bereits die Pädagogik abgestellt sein, und ebendarum auch habe ich mich von ehedem jedweder Art verweichlichender Erziehungspropaganda entgegengestellt, ganz ebenso wie allen Lehren, die den Menschen vor allem als triebbedingtes oder vorwiegend durch die Gesellschaft bestimmtes, individuell mehr oder weniger verantwortungsloses Geschöpf werten — und dabei vergessen, daß ihm Selbstbestimmungs- und Selbstverantwortungsfähigkeit innewohnen: in Vorträgen und Referaten über psychotherapeutische, über Probleme von Angst und Schmerz, wie natürlich auch über Themen der Psychohygiene im engeren Sinne habe ich mich ungescheut und in bewußtem Gegensatz zu heutigentags in den Vordergrund drängenden Lehren zu dieser meiner Ueberzeugung bekannt. Aber mit jeder Art Pädagogik muß natürlich auch der Appell an den Intellekt Hand in Hand gehen. Darum erscheint es mir dringlich not zu tun, unsere Jugend, vor allem die gebildete Jugend über Wesen und Programmatik seelischer Hygiene als einer erstrangigen Angelegenheit öffentlichen Interesses aufzuklären und sie für unsere Bewegung zu gewinnen: nicht bloß die ärztliche, sondern die geistig strebende Jugend überhaupt, von den Abiturienten unserer Mittelschulen — den „Colleges“ im Sinne der englisch sprechenden Welt — angefangen. Schon 1932 (damals gab es in Oesterreich erst eine Art losen Komitees für psychische Hygiene, denn unsere Gesellschaft wurde als solche erst 1948 von dem verewigten Otto Kauders begründet, nach dessen frühem Tode ich sie dann treühändig bis in den Herbst 1950 geleitet habe) sind auf meine Anregung, die auch der Wiener Stadtschulrat gerne aufnahm, von jenem Komitee für die Wiener Abiturienten, kurz vor ihrem Abschlußexamen, solche Aufklärungsvorträge von uns abgehalten worden; der jetzige Obmann unserer Gesellschaft, H. Hoff, hat dieses Erbe übernommen und uns bisherige Vortragenden unter der Patronanz des Stadt-

schulrates'weiter walten lassen. Daneben aber hat seinerzeit Kauders im Zusammenwirken mit den Wiener Volkshochschulen Serienvorträge über Themen der seelischen Hygiene organisiert, die von vielen von uns seither Jahr um Jahr vor einer interessierten und zahlreichen Zuhörerschaft aus allen Klassen der Wiener Bevölkerung gehalten werden.

Wir dürfen aber auch nicht erlahmen im Kampfe wider die zahlreichen schädigenden Keime der Industrie-, Finanz- und Großstadtzivilisation, welche die Gesundheit auch der Gesunden untergraben, vor allem auch die seelische Gesundheit und hier in erster Linie jene der heraufkommenden jungen Generation. Niemand von uns ist natürlich so wahnwitzig, dem Rade sozial-ökonomisch unvermeidbar notwendiger Entwicklung in die Speichen greifen zu wollen. Aber Schutzvorrichtungen vor diesem Rade anzubringen, ist Pflicht, denn erst mit ihrem sinnvollen Einbau vermag Zivilisation zur Kultur zu wachsen.

Und noch eines: die moderne psychische Hygiene hat von uns älteren Psychiatern die Erkenntnis übernommen, daß Arbeit eines der wichtigsten Heil-, aber auch eines der wichtigsten Vorbeugungsmittel im Haushalte seelischen Geschehens in allen .seinen Verzweigungen und Möglichkeiten darstellt: indes Menschen, denen Arbeit versagt ist, ebenso notwendig seelischer Gefährdung unterliegen.

Wir müssen demnach zuerst unserer heraufkommenden Jugend Arbeitsgelegenheit schaffen, und das erfordert bei der zunehmenden Langlebigkeit und Arbeitstüchtigkeit der Alten manche Opfer und Verzichte seitens der letzteren. Daß gleichwohl Betätigungsmöglichkeiten sowohl für die Alten wie für die Jugend gegeben sind, sofern man nur allenthalben guten Willens ist, darauf hat heutzutage mehr als ein Berufener hingewiesen, und auch ich selbst habe mich in deren Reihen gestellt; wertvolle Arbeitskräfte, die einen in gewissen Grenzen verbleibend, die anderen zielvoll emporstrebend, könnten so harmonisch im Interesse der Gesamtheit, aber auch der eigenen seelischen Gesundheit zusammenwirken.

Kurz sei auch noch der Eheberatung gedacht, die auf weite Strecken mit Eugenik und Eubiotik parallel läuft; ohne sie wird seelische Hygiene nie an ihr ideales Ziel gelangen . können.

Nicht auf alle —■ denn dazu langte hier der Raum nicht —, aber doch auf einige jener • Erfordernisse hinzuweisen, die sich aus dem reichen, bisweilen scheinbar widerspruchsvollen Aufgabenkreis moderner Psychohygiene ergeben (eine Antinomie indes unter zwei einander, wohl verstanden, harmonisch ergänzenden Zielsetzungen), war der Zweck dieser Zeilen.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung