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Mit Würde altern

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Für eine wachsende Zahl von Menschen in Europa heißt die Endstation im Leben Altersheim - Untätigkeit, Abbau der Spannkraft, Einsamkeit... Daß es auch andere Möglichkeiten gibt, um alte Menschen in das „normale” Leben einzubinden, zeigt der folgende Beitrag über Chinas Altenversorgung.

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Für eine wachsende Zahl von Menschen in Europa heißt die Endstation im Leben Altersheim - Untätigkeit, Abbau der Spannkraft, Einsamkeit... Daß es auch andere Möglichkeiten gibt, um alte Menschen in das „normale” Leben einzubinden, zeigt der folgende Beitrag über Chinas Altenversorgung.

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China ist ein wunderbares Land für alte Leute”, sagt die 76jährige ehemalige Österreicherin Ruth Weiss, die seit 50 Jahren in China lebt, und als pensionierte Journalistin weiterhin Beraterin im Verlag für fremdsprachige Literatur ist. „Man fühlt sich hier nie überflüssig. Man ist als alter Mensch geachtet und kann immer etwas tun.”

Wenn man durch China reist, hat man das Gefühl, daß alte Menschen dort ein größeres Selbstbewußtsein und eine angesehenere Stellung innerhalb der Gesellschaft haben als im Westen. Dabei ist die Hälfte der chinesisehen Bevölkerung jünger als 20 Jahre.und die Revolution von 1949 hat die Macht der Alten sehr bewußt beschnitten.

Dem Chinabesucher fallen die alten Menschen auch durch ihre Vitalität auf: Frühmorgens findet man an den Straßenecken und in den Parks alte Menschen, die Tai-chi chuan, eine meditative Bewegungsform, und andere Formen von Gymnastik betreiben. Auf dem Markt sieht man alte Bauern, die ihre Waren zum Verkauf anbieten, und ältere Männer und Frauen, die den zeitraubenden täglichen Einkauf für ihre Familie, der sie den Haushalt führen, erledigen.

Auf den Straßen, wo sich der Großteil des täglichen Lebens abspielt, kann man Großeltern mit ihren Enkelkindern spielen sehen. Senioren sorgen als Freiwillige für Ordnung im Straßenverkehr, bewachen Fahrräder, säubern Straßen... Auf dem Land sieht man oft betagte Bauern auf dem Feld arbeiten und die älteren Familienmitglieder tragen durch Nebenerwerbszweige, wie etwa Schweinezucht oder Gemüsebau, zur Erhöhung des Lebensstandards bei.

Die Alten sind in China eindeutig nicht abgeschoben oder in Altersheime verbannt. Sie erscheinen auch—trotz der schweren Zeiten vor der Befreiung, als Hunger und Elend vorherrschten — in erstaunlich guter körperlicher Verfassung. Selbst in einem Shanghaier Altersheim sieht man keine Rollstühle und man findet dort hochbetagte Männer und Frauen, die geistig und körperlich frisch wirken.

Die Gründe für das außerordentlich gute Befinden der älteren Generation in China sind vielfältig. Ein wichtiger Faktor ist das gute Verhältnis zwischen den Generationen, das in den konfuzianischen Traditionen der Ehrung des Alters und des Prinzips der Gegenseitigkeit verwurzelt ist.

Die Chinesen betrachten es als selbstverständlich, daß die Kinder den Eltern im Alter vergelten, was sie von ihnen in der Jugend erhalten haben. Die Jungen fühlen sich für die Versorgung der Alten verantwortlich und nehmen diese trotz oft beengter Wohnverhältnisse bei sich auf. Diese Verpflichtung ist auch gesetzlich verankert.

Das Arrangement ist aber wohl deshalb so erfolgreich, weil nicht nur die Eltern, sondern auch die Kinder davon profitieren. Für die jüngere Generation bedeutet der gemeinsame Haushalt eine finanzielle Aufbesserung und Arbeitserleichterung, denn die Eltern tragen gewöhnlich ihre Pension zum Haushaltsbudget bei. Dies ermöglicht Sonderanschaffungen, wie den Kauf von einem Eisschrank oder einer Waschmaschine, die in den letzten Jahren auch in China populär geworden sind.

In der Mehrzahl der Fälle übernehmen die Großeltern die Führung des Haushaltes und die Versorgung des Enkelkindes. Oft läßt sich die Großmutter zu diesem Zweck pensionieren, was für Arbeiterinnen bereits mit 50 Jahren möglich ist. Da nur rund 50 Prozent der chinesischen Kinder Kinderkrippen und Kindergärten besuchen, aber alle Mütter arbeiten, ist das von großer Wichtigkeit für die junge Generation.

Auf dem Land trägt die mangelnde Mechanisierung der Landarbeit dazu bei, daß das Wissen und Können der Alten weiterhin gebraucht und weitergegeben wird. Auch die Tatsache, daß China ein weniger jugendbetontes Land ist, in dem Schönheit und Energie nicht wichtiger sind als die Weisheit des Alters, trägt dazu bei, daß sich die Alten nicht überflüssig und uninteressant fühlen.

Freilich gibt es auch in China Konflikte zwischen den Generationen. Die Denkweise der alten, vor der Befreiung aufgewachsenen Generation ist zum Teil in manchen Punkten verschieden von der der im neuen China geprägten. Religiöse Glaubensformen der Alten, zum Beispiel, betrachten die Jungen oft als Aberglauben.

Man kann allerdings in jüngster ” Zeit hie und da in der Zeitung von Mißhandlung älterer Menschen lesen. Kommt es aber zu Konflikten, so bleibt das wegen der Wohnungsdichte nicht verborgen, und solche Äffairen werden nicht wie im Westen als Privatangelegenheit betrachtet: Oft übernimmt das Nachbarschaftskomitee des jeweiligen Wohnbezirkes die Funktion des Vermittlers.

Weisheit wird geschätzt

Im allgemeinen jedoch sind die Beziehungen zwischen den Generationen harmonisch. Die Familie nimmt im Leben der Chinesen einen äußerst wichtigen Raum ein und ist ein Ruhepol im ständigen Wechsel politischer Kampagnen und Strömungen. Kinder werden von den Chinesen geliebt und verwöhnt und als Garantie für die Zukunft betrachtet.

Mit der neuen Familienplanung, die die Kinderzahl auf ein Kind pro Familie zu beschränken sucht, um den Bevölkerungszuwachs in China einzudämmen, wird sich diese Tendenz noch verstärken. Manche Beobachter befürchten, daß die neue chinesische Generation von Einzelkindern allzu verzogen sein wird.

Nicht jeder Chinese jedoch hat Kinder, die ihn im Alter versorgen. Für Kinderlose oder Unverheiratete gibt es staatliche Altersheime. Diese sind jedoch eher selten: Für eine Bevölkerung von über 80 Millionen Menschen über sechzig gibt es nur 600 Altersheime in den Großstädten und 8000 kleinere Heime auf dem Land. Erstaunlicherweise sind diese Heime nicht überfüllt.

Ein Shanghaier Altersheim etwa, in dem kinderlose Senioren ohne Pension leben, hat keine

Warteliste und sogar freie Betten!

Was dem Besucher an diesem Heim vor allem auffällt, ist die mangelnde Anstaltsatmosphäre. Die Zimmer sind mit einfachen, aber häuslichen Holzmöbeln ausgestattet und weiß gekalkt. Auf den Betten liegen farbenfrohe Bettdecken. Es gibt keinen Speisesaal, sondern das Essen wird in den Zimmern eingenommen. In jedem Zimmer wohnen zwischen sechs und acht Personen. Selbst in der Abteilung für Bettlägerige herrscht keine Krankenhausstimmung und es gibt regen Besuch von gesünderen Bewohnern.

Auch die Lebenserwartung hat sich seit 1949 auf Grund freier medizinischer Betreuung und besserer Ernährung von 35 auf 69 Jahre erhöht. Dieser Umstand und der rapide Anstieg der Geburten in den fünfziger Jahren wird in den kommenden Jahren einen enormen Zuwachs der Bevölkerung über 60 bewirken. Man erwartet, daß es im Jahr 2000 130 Millionen Chinesen über 60 Jahre geben wird. Die Chinesen sehen dies jedoch nicht als beängstigend an, denn die jüngeren Bevölkerungsgruppen werden weiterhin überwiegen und die Versorgung der Alten übernehmen.

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