Wie soll man dem neuen Jahr begegnen? Auf jeden Fall nicht mit einer Mythenproduktion, perfektionistischen Idealen oder blinder Aggression. Der Soziologe Manfred Prisching erklärt, was uns erwartet und wie man auch 2023 den „Scherereien“ der Wirklichkeit standhält.
Die Attacken gegen demokratische Prinzipien zeigen dieselbe Grundidee: Es geht darum, Hemmnisse zu beseitigen und uneingeschränkte Führerschaft zu ermöglichen.
Es ist erwartet worden. Dennoch macht sich nach dem Sieg von Alexander Van der Bellen im ersten Durchgang der Bundespräsidentenwahl Erleichterung breit. Fünf Aspekte.
Die Unsterbliche ist gestorben. Oder auch nicht: Denn Mythen sterben nicht. Dennoch geht, wenn Queen Elizabeth II. zu Grabe getragen wird, eine Ära zu Ende.
Gebildet, grenzüberschreitend, wertkonservativ, liberal: All das war Wolfgang Mantl. Vergangene Woche ist der langjährige Grazer Ordinarius für Politikwissenschaft und Verfassungsrecht 83-jährig nach langer Krankheit gestorben.
Das vergangene zweite Corona-Jahr hat neben der Fragilität des Körpers auch jene des Denkens, der Institutionen und der liberalen Demokratie offenbart. Ein essayistischer Rückblick.
Neben dem ignoranten Halbwissen gibt es eine objektive, „natürliche“ Halbwissenslage. Wir haben begrenztes Wissen: wie die Dinge beschaffen sind, wie sie zusammenhängen, wie unbeabsichtigte Nebeneffekte von Maßnahmen wirken und was am Ende herauskommt. Fatalerweise müssen wir mit dieser unzulänglichen kognitiven Ausrüstung wesentliche Probleme der Menschheit bearbeiten. Wir können auf Wissensaufbau und -anreicherung oft nicht warten: Entscheidungen unter Zeitdruck. In der Epidemie war unser Wissen über Virus, Krankheit, Infektion und Behandlung zunächst rudimentär und wurde erst
Darüber wird noch immer diskutiert: War 9/11 eine historische Zäsur? Zeitungen schrieben: Es werde nichts mehr so sein, wie es vorher war. Es folgten der Afghanistankrieg und der Irakkrieg – beides erfolglose Unternehmungen. Der Moment des Entsetzens über den Terror ging vorüber, grundlegende Normen und Deutungen erwiesen sich als stabil. Es gäbe aber noch andere Kandidaten für die Zäsurvermutung: Im Wirtschaftsleben wähnte man sich krisenresistent – und dann kam die globale Krise 2008. Die Migration glaubte man im Griff zu haben, bis zum Jahr 2015. Die westliche Demokratie und
Die amerikanische Zeitschrift Foreign Policy hat 13 renommierte Ökonomen und Denker gefragt, wie sie die postpandemische Gesellschaft benennen würden. Es wurden Begriffe vorgeschlagen wie experimentelle Ökonomie, entfesselte Regierung, Postfinanzkapitalismus, neuer Sozialvertrag oder infantilisierter Liberalismus. Zwei andere Begriffe sind origineller. Niall Ferguson schlägt „the boring twenties“, die langweiligen Zwanziger, vor. Dem Fiasko des Ersten Weltkrieges seien die lebenslustigen Roaring Twenties gefolgt, deren Schattenseiten man allerdings nicht vergessen sollte. Doch uns
Initiativen zur Klimarettung und zur Energiewende lösen Begeisterung aus, von Paris über G7 bis zum nationalen EAG. Eigentlich scheint die Arbeit fast getan. Green century. Doch wenn Ziele für Jahre wie 2030 oder 2050 genannt werden, weiß man, dass keiner der beteiligten Politiker noch im Amt sein wird. Und selbst wenn alle sofort die Ärmel aufkrempeln, fehlen Lösungen. Weltweit tragen Wind und Sonne derzeit etwas mehr als 3 Prozent zum Primärenergiebedarf bei - und dieses herzige Potenzial will man flugs so ausbauen, dass in wenigen Jahren ein Großteil der rund 84 Prozent fossiler
Es ist etwas Eigenartiges um die Normalität. Seinerzeit war sie doch das, was keiner wollte. Normal ist gewöhnlich, durchschnittlich, langweilig. Die Spätmoderne, vor allem ihre Jugendkultur, ist ja auf Außergewöhnlichkeit, Sensation, Anomie und Euphorie getrimmt. Wer will schon normal sein? Normal ist muffig, old-fashioned, jenseitig, schleißig, uncool. Irgendwie hat man sich hinausgesehnt aus diesem Alltag. Dann kommt Coronas Ausnahmezustand. Mit den ersten Lockerungen bricht die Euphorie über die wiederzugewinnende Normalität aus. Der Begriff ändert seinen normativen Flair. Endlich
Die Forderung nach Normalität wird oft an die Politik gestellt – als den falschen Adressaten. Der Adressat wäre das Virus. Aber das Virus antwortet nicht.
Manche tun so, als geböten es Pluralismus, Demokratie und Menschenrechte, alle Meinungen zu respektieren und ernst zu nehmen. Welch ein Unsinn! Erstens gibt es Dogmatismen, Rassismen und Hassreden unterschiedlicher Art, die nicht zu jenen Auffassungen gehören, die man locker unter „Meinung“ rubrizieren kann. Trumpisten, die Ku-Klux-KlanThesen vertreten, oder islamische Kämpfer, die Christentum, Frauen und Westen verächtlich machen, üben nicht ihre liberalen Rechte aus; sie sind Zerstörer. Zweitens gibt es Behauptungen, die unter dem Titel der Meinungen vorgetragen werden, die aber
Vor 75 Jahren erstand Österreich aus einer tief gespaltenen Gesellschaft. Wo finden sich die Fragmentierungen und Polarisierungen der spätmodernen Gegenwart? Ein Essay.
Die vielen Fragezeichen der Coronakrise heben unsere bisherige Welt aus den Angeln. Mit welchen Einschränkungen wir künftig rechnen und an welche Ambivalenzen wir uns gewöhnen müssen.
Korruption kostet Geld, senkt Effizienz, schreckt Investoren ab und mindert Wachstum. Und trotzdem scheint sie unausrottbar. Über ein schwer zu fassendes Übel.
Statt ständiger Bevormundung sollten Bürgerinnen und Bürger selbst entscheiden – dies fordern viele in der Corona-Krise. Empfehlungen genügten. Man solle die Menschen als Erwachsene behandeln und sie nicht mit überflüssigen Vorschriften traktieren. Das ist einleuchtend, daraus könnte man Lehren für andere Lebensbereiche ziehen. Die Schulpflicht könnte abgeschafft werden; denn mündige Menschen wissen, dass ihre Kinder in einer Wissensgesellschaft nur mit guter Ausbildung Erfolg haben. Man benötigt keine Geschwindigkeitsbeschränkungen im Verkehr; es ist im wechselseitigen
Eigentlich galt die positive Grund-überzeugung: Jede weitreichende Verflechtung (networks und flows über die ganze Welt) ist eine gute Sache. Globalisierung schweißt die Erde zur „Weltgesellschaft“ zusammen; eine über alle Kontinente sich erstreckende Arbeitsteilung produziert höchste Effizienz; eine kosmopolitische Perspektive macht die Kulturen der Welt überall zugänglich; politische Vernetzung schafft Frieden, da man einander kennen und vertrauen lernt. Freilich kam Weltgesellschaft nirgends in Sicht. Der Weltmarkt schafft wohl Konvergenz, aber für die Spitzenreiter bedeutet
Ein Ausrutscher kann ja passieren. Aber wenn Donald Trump in diesem Jahr wiedergewählt wird, was sind denn dann die US-Amerikaner für ein Volk? Eine soziologische Glosse.
Jonathan Franzen hat die Weltenretter verärgert: Der Klimawandel sei so weit gediehen, dass wir uns auf die Katastrophenbewältigung einstellen sollten. Das hört man nicht gerne, wo doch alles derzeit so gut läuft: E-Autos, Flugticketabgabe, CO₂-Steuersystem, Kohle im Ab- und Sonne im Aufstieg. Doch Franzen hat recht. Energie bleibt ein Problem. Mehr E-Autos, welche die nächsten zwei Jahrzehnte mit fossiler Energie fahren. Mehr Wind und Sonne, bei denen die Speicherprobleme ungelöst sind. Und eine Epidemie der Klimaanlagen. Die elektronische Welt braucht immer mehr Strom. Einzig die
Der in öffentliche Ämter gewählte Mensch befindet sich in einer seltsamen Situation. Er sollte eigentlich gestalten, muss aber Stimmungsmanagement betreiben. Wohin führt das? Ein Essay.
Erstens: Pragmatik bedeutet nicht Visionslosigkeit. Vielmehr: Visionen auf den Erdboden holen. Nur so geht Politik. Die Fundamentalisten müssen im Zaum gehalten werden. Weder die reine Lehre der Klimapolitik noch deren angeblich markterzwungene Unmöglichkeit; sondern rasche Klimapolitik plus wirtschaftliche Tragfähigkeit plus soziale Gerechtigkeit. Es geht um Trade-off-Verhältnisse. Zweitens: Pragmatik bedeutet Respekt und Kooperationswille. Wenn man Unternehmer nur als gierige Ausbeuter und Grüne nur als verrückte Träumer sieht, ist man arbeitsunfähig. Da hatte man von den langen
Jahreszeitgemäß wäre ein Weihnachtsbeitrag angesagt: ein besinnlicher (was zählt im Leben?) oder ein kritischer (müssen wir so viel kaufen?). Aber diese Welle kommt ohnehin alljährlich über uns, folgenlos; ebenso wie die Klage über das Christmas-Gedudel. Aber die kulturwissenschaftliche Frage ist schon interessant: Wie verändern sich Inhalt und Erscheinungsform des Weihnachtsfestes? Erstens ist das religiöse Substrat in einer sich säkularisierenden Gesellschaft im Niedergang. Weihnachten wird nicht sterben, weil es attraktiv ist – aber es wird als Folklore erlebt. Etwas für das
Sie haben ja recht. Endlich tut sich etwas an den zukunftsträchtigen Freitagen. Jugend ist politisch. Wollen die Welt retten. Ist auch Zeit. Endlich die Erwachsenen ein bisschen vor sich hertreiben. Ideale Ikone: Mädchen, 16 Jahre, Asperger, klug, selbstbewusst. Und doch ist Unbehagen dabei. (1) Endlich kann die Freude am Protest wieder einmal ausgelebt werden. Eltern und Großeltern hatten schon recht mit ihren verklärten Erinnerungen an das Kollektiverlebnis Demonstration. Auch wenn es heutzutage eher konformistischer Vorzeige-Individualismus nach dem Influencer-Modell ist. (2) Die
Ein Anstieg des Bösartigkeitsniveaus, populistische Verhaltensweisen quer durch das Parteienspektrum und medialer Overdrive prägten die Logiken des Wahlkampfs. Eine Bilanz in sechs Punkten. Ein Gastkommentar.
Trump, Johnson, Salvini, Bolsonaro: Die Methode, einfach den Hardliner zu spielen, der sich an keine Regeln halten muss, scheint am Ende doch zu scheitern.
Immer öfter die Fernsehreportagen über Stauberichte,Vorreservierungsnotwendigkeiten, Kontingentierung – der durch steigenden globalen Wohlstand forcierte Tourismus schwappt wie eine Epidemie über die denkwürdigen Stätten des Abendlandes, durch die engen Innenstädte, zu den berüchtigten Partymeilen, durch die einst stillen Dorfgemeinden. Widerstand regt sich. Das Geschäft ist oft lukrativ, aber auf Sicht wird das Substrat des Sehenswürdigen und Lebenswerten (und damit eben auch das Geschäft) zerstört: von Venedig bis Hallstatt, von Mallorca bis Salzburg. Man hat den Touristen das
Vor dreißig Jahren hat das „kurze“ 20. Jahrhundert (von 1918 bis 1989) geendet, das nicht nur in seinem Grauen extrem war, sondern (zumindest in Europa) auch in der Hervorbringung von Reichtum, Gesundheit und Sicherheit. Es folgten Jahre der Selbstüberschätzung. Gemäß der Illusion vom „Ende der Geschichte“ sollte sich die ganze Welt nach dem Ende des Kalten Krieges zu Marktwirtschaft und Demokratie bekennen; stattdessen sehen wir neue Formen des Staatskapitalismus, des imperialen Strebens und des Autoritarismus. Man dachte, man würde in die Epoche von Abrüstung und Friedlichkeit
Das Thema der Biennale lautet gegenteilig: May You Live in Interesting Times. Das klingt nach Zeitdiagnose und ihrer Verarbeitung mit künstlerischen Mitteln. Also auf nach Venedig, die Stadt lohnt sich ohnehin immer. Nicht selten wird zudem Künstlern angesonnen, eine besondere Sensibilität für erst angedeutete gesellschaftliche Entwicklungen zu besitzen und solche Erkenntnis in der Spannung von Wirklichkeit und Fiktion kreativ zum Ausdruck zu bringen. Nun ja, die venezianische Gastronomie kennt den Bluff. Warum nicht auch die Künstler? Ein Dutzend bemerkenswerte Exponate fallen mir
Der politische Diskurs ist kompliziert geworden. Keine Aussage ist zu nehmen, wie sie ist. Das ist nicht nur dem aktuellen Wahlkampf geschuldet, sondern auch dem polarisierten Kampf um politikkulturelle Hegemonie, um aufmerksamkeitserregendes Vokabular, um festlegende Unverbindlichkeit – und (letztlich) um Macht. Ein geäußerter Satz könnte (1) wörtlich genommen werden – aber an der jeweiligen „Sache“, an Themen und Argumenten, ist kaum jemand interessiert. Der Satz ist (2) viel eher als gefühliger, stimmungserzeugender Input in die öffentliche Szene zu sehen und oft so
Was ist in einer Zeit weltanschaulicher Patchwork-Teppiche "christlich-sozial"? Und was bedeutet das für Ökonomie, soziales Zusammenleben und die Demokratie? Ein Gastkommentar.
Wir wissen, dass die katholische Kirche seinerzeit aus der Welt gefallen war und das Zweite Vatikanum sie wieder ein Stück in die Welt verfrachtet hat, ohnehin mit Behutsamkeit. Seitdem hat die Reform der Kirche in den unteren Etagen stattgefunden, wo Priesterschaft und Kirchenvolk neue Arrangements gefunden haben, die "da oben" längst noch nicht angekommen sind. Missgriffe beim Personal -da half auch nicht immer der Beistand des Heiligen Geistes. Pädophilie als System. Nicht sinnvoll rechtfertigbare Unzeitgemäßheit -über Frauen, Zölibat etc. muss man eigentlich gar nicht mehr reden.Nun
Die katholische Kirche ist eine ziemlich moderne Institution. Überraschend, nicht? Doch im Vergleich zu den Geschwistern, dem Judentum und dem Islam, ist es in der Tat so. Das Judentum ist nach wie vor eine "stammesbezogene" Religion, mit stetem Ringen darum, wer (biologisch) wirklich Jude sein kann. Es bedarf eines großen Interpretationsaufwandes, aus dem Gott der hebräischen Bibel eine gütige und mit dem modernen Verständnis kompatible Gestalt zu machen. Von einer Trennung von Staat und Religion kann nicht wirklich die Rede sein; soeben handeln sich im Machtspiel die orthodoxen Gruppen
Was will man von einem Wahlkampf erwarten, in dem "Krise“ kein Thema sein darf? Bestenfalls gruselige Harmlosigkeit. Randnotizen zu einer Wahl.Der Wahlkampf ist vorüber, alle Freundlichkeiten hat man einander ausgerichtet. Die Wahlen sind vorüber, alle Gründe für die Stimmabgabe sind analysiert. Man kann sich wieder dem Alltag widmen. Das gilt für die Wählerinnen und Wähler, es gilt auch für die Politiker, die sich, trotz Regierungsbildung, dem "normalen Lauf der Dinge“ zuwenden können - was im Wissen um die vergangenen Jahre eine gefährliche Drohung ist. Denn wir leben in einem
Früher einmal hätte man gedacht, die "Wissensgesellschaft“ fordere höhere Qualifikationen für alle; heute wissen wir, es genügen die Zertifikate, auch wenn sie nichts Qualifiziertes bescheinigen.Rund die Hälfte eines Jugendlichen-Jahrgangs beginnt eine akademische Ausbildung an Universitäten und Fachhochschulen, und es sollen mehr werden. Nur ein Teil davon schließt ab. Jedenfalls besteht europaweit der Drang zur Verbesserung der Statistik formeller Abschlüsse. Alle immer höher hinauf.Der Europäische Qualifikationsrahmen ist hierfür das neueste Instrument. Man legt allgemeine
Das neoliberal-individualistische Weltbild der letzten Jahre hat sich an die Botschaft geklammert: Niemand hat je eine Gesellschaft gesehen. Nur Individuen handeln. Der Blick auf das Ganze ist bloß Selbsttäuschung.Neuerdings gibt es schöne Beispiele dafür, dass die Logik einer Handlungssituation für Einzelentscheidungen höchst relevant ist. Anders formuliert: Wenn man die Menschen in bestimmte Arrangements – mit bestimmten Anreizen – versetzt, besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass sie auf bestimmte Weise handeln.Erstes Beispiel: Erstmals wird das Doping-Thema anders diskutiert,