Normalitätssehnsucht

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Die Forderung nach Normalität wird oft an die Politik gestellt – als den falschen Adressaten. Der Adressat wäre das Virus. Aber das Virus antwortet nicht.

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Die Forderung nach Normalität wird oft an die Politik gestellt – als den falschen Adressaten. Der Adressat wäre das Virus. Aber das Virus antwortet nicht.

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Es gibt erstaunlich viele Menschen, die spätestens für den Herbst jene Normalität des Lebens erwarten, die es vor der Pandemie gegeben hat. Das ist nicht nur eine unrealistische Lagebewertung, es ist eine skurrile Sache: Hatte doch die Normalität vordem einen schlechten Ruf und wurde mit Alltäglichkeit, Langeweile, Routine und Mittelmäßigkeit identifiziert. Normal wollte niemand sein. „Normal“ war beleidigend. Plötzlich hat sich die Einschätzung gedreht. Alle sehnen sich nach besagter Normalität.

Es ist ein erstaunlicher Bruch in der Betrachtungsweise, wurde doch dieser Vorher-Gesellschaft von vielen Analytikern attestiert, sie lebe immer nur auf die Zukunft hin, auf das Mehr, den Zuwachs, die Neuigkeit. Die Menschen übersähen oder verachteten die Gegenwart (und würden damit ihr Leben verplempern). Tatsächlich drängte alles zur Sensation, zur Außeralltäglichkeit, zur Euphorie oder zur Ekstase. Der Normalität entfliehen. Irgendwo anders müsste das wirkliche und eigentliche, das tiefe und leichte Leben zu finden sein. Das Leben der Kitschfilme und der Werbung. Der pandemische Paukenschlag hat uns aus der Routine gerissen. Plötzlich gibt es einen anderen Blick auf die Verhältnisse. Alle wollen Normalität. Alle wollen zurück in ihr altes Leben, das sie bislang eher heruntergelebt haben. Weil man nicht aussteigen kann. Weil Träume eben bloß Träume sind. Nun sind die alten Lebensmöglichkeiten versperrt, und es erfolgt eine radikale Kurve. Die Forderung nach Normalität wird oft an die Politik gestellt – als den falschen Adressaten. Der Adressat wäre das Virus. Aber das Virus antwortet nicht. Es verweigert die Normalität. Und so sehnt man sich weiter. So schlecht kann es vorher nicht gewesen sein.

Der Autor ist Professor für Soziologie an der Uni Graz.

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