2023 - © Illu: Rainer Messerklinger

2023: Die Welt ist ein Durcheinander

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Wie soll man dem neuen Jahr begegnen? Auf jeden Fall nicht mit einer Mythenproduktion, perfektionistischen Idealen oder blinder Aggression. Der Soziologe Manfred Prisching erklärt, was uns erwartet und wie man auch 2023 den „Scherereien“ der Wirklichkeit standhält.

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Wie soll man dem neuen Jahr begegnen? Auf jeden Fall nicht mit einer Mythenproduktion, perfektionistischen Idealen oder blinder Aggression. Der Soziologe Manfred Prisching erklärt, was uns erwartet und wie man auch 2023 den „Scherereien“ der Wirklichkeit standhält.

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Die Idee, dass die Menschen aus ihrer Geschichte lernen, gehört zwar zu den Binsendummheiten, dennoch können wir an der Jahreswende (unoriginell) fragen: Haben wir in diesem Jahr, in den letzten Jahren, im letzten Jahrhundert Erfahrungen gewonnen? Und was könnten wir aus den mehrfachen Krisen mitnehmen in die nächsten Jahre?

  • Die Entdeckung des Grundlegenden. Dass die Menschen biologische Wesen sind, deren Körper sich im evolutiven Kampf mit anderen Spezies befinden, ist in der spätmodernen Welt an den Bewusstseinsrand gedrängt worden, aber die Viren haben daran erinnert. Dass die ökologischen Simulationen, die wir ein halbes Jahrhundert schon, seit dem Club of Rome, kennen, nicht nur mathematische Spielereien sind, haben Wetterereignisse erfahrbar gemacht. Dass eine mehrtausendjährige Gewaltgeschichte sich nicht plötzlich in Friedfertigkeit auflöst, hat der neue Krieg vor Augen geführt. Dass Vertrauen in die wirtschaftliche Stabilisierungskompetenz ungerechtfertigt ist, zeigt uns die zentralbankinduzierte und zufallsforcierte Inflation. Lehre 1: Epidemie, Umwelt, Krieg, Subsistenz – die modernistische Illusion der Grenzenlosigkeit wandelt sich zur „Grenzerfahrung“. Knappheiten in der Bio-, Öko- und Soziosphäre. Knappheit braucht Entscheidung. Deshalb sollte man eine Frage, die in der Epidemie kurz aufgepoppt ist, in das neue Jahr mitnehmen: Was ist wichtig? Und was ist bloß Behübschung?
  • Die Ambivalenz der Fülle. Menschen fühlen sich überfordert in der Masse der Dinge, der Beziehungen, der Apparaturen, der Informationen, der Bilder, der Migranten. Sie leben nicht nur im „stählernen Gehäuse“ Max Webers, sondern in materiellen und immateriellen Strömen, von denen sie mitgerissen zu werden drohen. Der unbegriffenen, unbegreiflichen Umwelt wollen viele durch radikale Komplexitätsreduktion beikommen; für ein vermeintliches Verstehen war schon immer Mythenproduktion die beste Methode. Lehre 2: Märchen, um sich die Wirklichkeit in den Bereich des Begreifbaren hereinzuerzählen, gedeihen in der angeblichen Wissensgesellschaft nicht weniger als in einfachen Gesellschaften. Dennoch wäre es gut, sich weitgehend an Wirklichkeit und Vernünftigkeit zu halten, wenn man an Wirksamkeit interessiert ist (was einen angemessenen Umgang mit emotionellen Dimensionen, ohne Exaltationen, keineswegs ausschließt).

Imagination eines Paradieses

  • Die Begegnung mit dem Bösen. Der Teufel ist im Westen noch früher eliminiert worden als Gott, aber die Kräfte, die das Böse zeugen, wurden dadurch nicht aus der Welt geschafft. Es gibt die alltäglichen Böswilligkeiten im Politikgeschehen; eindrucksvoller sind die Hassexzesse und Pogromstimmungen in der elektronischen Welt; und eine realhistorische Dimension gewinnen gar Schlächtereien wie jene in Butscha, wo gezielte Massenmorde an die grausigen Zeiten des vorigen Jahrhunderts erinnern. Die Menschen sind (nach einem Wort Immanuel Kants) aus krummem Holze geschnitzt. Es gibt sie nicht, die homines novi, die neuen Menschen, die sich eine altruistische Welt schaffen können. Lehre 3: Die Imagination eines Paradieses macht die Vertreibung aus diesem nicht rückgängig, legt aber die Latte zu hoch. Denn dann verschmäht man eine erträgliche Gegenwart und zerstört sie. Paradiesvisionen haben in der Geschichte immer Ströme von Blut ausgelöst, ohne Erfolg. Das Gute und das Böse gehören zum Dasein. Aber ständiges Appeasement gegenüber dem Bösen führt Schritt für Schritt in den Untergang. Manchmal muss man sich wehren.
  • Sehnsucht nach dem Umfassenden. Die Zerfalls- und Desintegrationsprozesse der letzten zweihundert Jahre hat man immer wieder durch starke Ideologien zu bändigen versucht. Aber die christliche Religion ist erschöpft. Kommunismus und Faschismus sind (vorderhand?) diskreditiert. Die reine Wissenschaft hat ihre Grenzen gezeigt, ebenso der reine Markt. Es bleibt: die Nation. Patriotismus wollen wir, Nationalismus nicht – und der Unterschied ist verwaschen. Das tribalistische Bedürfnis lässt sich jedoch als national-suprematistisches Heilsbedürfnis politisch instrumentalisieren und aufheizen. Dann begeistert man sich für einen starken Führer, um Feinde zu bekämpfen – und es entsteht die Drift von der illiberalen Demokratie zum Autoritarismus und zum Despotismus. Lehre 4: Es ist historische Verharmlosung, Alltagskleinigkeiten mit den großen Etiketten zu bombardieren (Faschismus, Rassismus, Kolonialismus, Antisemitismus) und mittels Gegen-Autoritarismus zu bekämpfen: gegen jene, die „falsche“ Vokabeln verwenden. Es gibt global genug an „echter“ Demokratieunterhöhlung, um die man sich kümmern soll. Und man sollte mit den Füßen auf der Erde bleiben, denn das Prinzip, dass Heilsbringer sich durchwegs als Unheilsbringer erwiesen haben, ist empirisch bewährt.

Die Menschen sind (nach Kant) aus krummem Holze geschnitzt. Es gibt sie nicht, die ,homines novi‘, die neuen Menschen, die sich eine altruistische Welt schaffen.

  • Abschied vom Prinzipiellen: Der Begriff von Odo Marquard deutet an, dass man mit der Vielfalt der spätmodernen Welt nur zurechtkommt, indem man von perfektionistischen Idealen und Gesamtmodellen Abstand nimmt. Gebilde der „Reinheit“ werden etwa als Esoterikmodell („Kräfte, Kosmos, Natur“) oder als Verschwörungsmodell („die verborgene Elite“) artikuliert. In dieser Sicht gewinnt die Welt wieder an Ordnung. Lehre 5: Die Welt ist ein Durcheinander. Grauzonen, Mischungen, fuzzy society, Liquidität. Sie ist nicht wohlgeordnet, nicht konsistent, nicht „sauber“. Man muss sich mit der Fragilität und Widersprüchlichkeit der Verhältnisse abfinden, statt in (falsche) Nostalgien zu flüchten. Vielleicht kann man ein paar Konturen setzen, in der anzueignenden Welt.
  • Wandel der Paradigmen. Einiges spricht dafür, dass derzeit nicht nur Jahreswende, sondern Zeitenwende gespielt wird. Es wurde nicht nur an ein paar Knöpfen gedreht, es haben sich ein paar Großgemälde geändert: nicht verschobene Parameter, sondern verworfene Paradigmen. Die neuen Gebilde lassen sich undeutlich (und manchmal gar nicht) erkennen, mit Überraschungen ist zu rechnen. Lehre 6: Man sollte ein „erwachsenes“ Verhältnis zur Wirklichkeit anstreben. Es ist kindisch, ein blindes Aggressionspotenzial auf Themen, die gerade des Weges kommen, loszulassen; ebenso kindisch wie das Eintauchen in die rasch wiederzugewinnende Besinnungslosigkeit (die postepidemische Rückkehr in Intensiv-Konsum und Intensiv-Entertainment). Das ist Selbstverlorenheit. Erwachsen wäre es, die Dinge nicht mit Fatalismus, sondern mit Gelassenheit zu betrachten: Epiktet und Seneca lesen. Reflexion statt Bauchgefühl. Pragmatismus statt Wünsch-dir-was. Die Menschen haben schon andere Scherereien überstanden. Irgendjemand hat einmal gesagt: Wenn das Alte stürzt, hat das Neue noch nicht gesiegt. Für das Erschaffen des Neuen braucht es aber einen langen Atem, über dieses Jahr hinaus.

Der Autor ist Professor für Soziologie an der Universität Graz.

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