Kreis - © Illu: Rainer Messerklinger

Max Jacobs „Höllenvisionen“: Labyrinth und Rätsel

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Max Jacobs „Höllenvisionen“ gehören zu jenen mystischen Prosadichtungen, die ein inneres Rauschen erzeugen. Der Versuch einer Antwort oder eine literarische Ouvertüre zum Jahresanfang.

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Max Jacobs „Höllenvisionen“ gehören zu jenen mystischen Prosadichtungen, die ein inneres Rauschen erzeugen. Der Versuch einer Antwort oder eine literarische Ouvertüre zum Jahresanfang.

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„Die Steine der Fingerringe oder Teiche, die Teiche oder Steine der Fingerringe. Habt ihr gesehen, was sich in der Tiefe bewegt, in der Tiefe der Steine der Fingerringe, in der Tiefe der Teiche.“ In der Muschel aus Papier höre ich das Meer. Greifbar. Unantastbar. Schwimme durch Feuerringe, mit taubem Nacken und stummen Augen, an der Tiefe vorbei. Über mir Wellengemurmel. Wer spricht denn da? Nur so leise, dass ich es gerade noch wahrnehme. Drehe die Antenne, ziehe sie aus. Störgeräusche, ein Piep-Ton und Raketenwerfer. Neujahr oder neues Land? Eine Zeit, die sich versteckt hinter den Zeigern, die nichts anzubieten haben. Immer nur im Kreis und mein Lauf nimmt seine Arbeit auf. Tagein, tagaus. Atmen, Luft anhalten. In der Tiefe der Worte verschwinden die kleinsten Staubkörnchen im geordneten Monolog. Spaziere ich durch Dublin mit Joyce, weil auch er nur dupliziert, um seiner Zeit zu entgehen? Dublin oder Wien. Bloom oder ein Wiener? Es nebelt im Zimmer und der Raum niest und ich tauche auf. Höre das Gemurmel aus dem Radio jetzt ganz laut. Sie schießen und ich laufe im Labyrinth der Grashalme, die sich spitz und riesenhaft vor mir auftürmen in eine drastische neue Welt.

Rotspuren im Schnee

„Man bringt mir eine große, aus Kupfer getriebene Arbeit: zwei Türen: die eine mit Spießen besteckt, verflochten mit Schrecknissen [...]; die andere geschlossen, aber erhaben und friedlich. [...] Fühlst du nicht, daß man dich woanders hin einlädt?“ Woanders hin ist die Tür meiner Eltern. Verschlossen, die Möbel vergriffen und unser bosnisches Teeservice haben sie mitgenommen in die Unzeitlosigkeit. Ilidža. 66.000 Einwohner. Und welche es doch waren. Samt Hollywood-Hotel und Pool. In der Tiefe der Steine. Fußstapfen im Rückwärtsgang. Graffiti in der Betonschräge. Sarajevo 1984. Die fünf Ringe blicken zerschossen vom Himmel herab. Ich zähle die Einschusslöcher, während ich die Bobbahn in meinem Kopf entlangstapfe. Bunte Anoraks wie Punkte im weißen Wasserbad. Fahnen und Hymnen. Und dann sind sie gerutscht. Um ihr Leben gerutscht, für Medaillen, das Gold unter ihrem Hintern. Die Einschusslöcher wie Blindenschrift. Schneestarre. Meine Finger im Plüschsofa. Das Zahnfleisch hat sich entzündet. Die kleinen Tröpfchen bilden Laken, Rotspuren im Schnee. Kein Blick zurück. Eine schwarze Faust. Stillstaunen. Denkwarten. Kaltflügeln. Die Bobbahn hält und schlingt ihren Schlauch um die Stadt, die es nicht mehr gibt. Erinnerungen, bodenlos wie Schlamm, entledigen sich bei jedem Schütteln vom Körper. Moosbewachsene Augen, dichtes Haar und Frauen mit Oberlippenbart. Das bin ich. Die Präsenz meines Kulturkreises. Die zweite Haut. Und immer wieder Österreich. Lese von Städtepartnerschaften. Wien und Kiew: 1. Mai 1992. Linz und Saporischschja: 1. Mai 1983. Wels und Saky: 1. Oktober 1997. Sarajevo und Innsbruck und so weiter. Sie haben verstanden? Die Strömung zieht weiter.

„Die Treppen sind in Richtung Büro weniger schön als in Richtung Straße. [...] Die Treppen sind noch weniger schön in Richtung Keller! aber was soll ich über den Sumpf sagen, in dem ich anlangte? was über das Gelächter? über die Tiere, die ich streifte, und das Flüstern unsichtbarer Wesen?“ Etwas kribbelt unter der Nase, aber ich kann mich nicht kratzen, ich kann es nicht lokalisieren. Ganz ohne Kompass, ein Wort in den Mund gelegt. Esse Butterkekse ohne Butter und draußen wartet das Blackout. Oder ist es männlich? Mein Weg zum Büro und einmal fährt eine Pferdekutsche vorbei. Gute alte Zeitlichkeit. Mein Weg Richtung Keller: Ich traue mich nicht. Gehe lieber in den Waschsalon. „Mit gutem Gewissen“ steht auf der Werbetafel. So rund wie der Kreis in Ihrer Mitte entlasse ich Sie mit den flüsternden Stimmen, aber wo? Wie? Schon jetzt? Ich beschließe, noch ein Weilchen zu bleiben, nachdem Ihre Augen noch immer den meinen folgen. Löblich, Ihre Aufmerksamkeitsspanne, das Gold unserer Zeit. Nicht alles muss verstanden werden und doch kann ich mich nicht greifen. Und immer das Politische in allem. Greenwash. Ich wähle das Programm und drücke Start. Und die Maschine wiegt den Schlamm und spült ihn aus. Morgen bin ich wieder ein Frischling in einer alten Haut. Habe mich ausgesehen an Bildern und Stories und Meinungen und mache nichts daraus. Schreiben Sie mir! Ein Wirrsinn. Ein Hilferuf? Der gute alte Teletext. Das Kribbeln kriecht immer weiter hinauf, aber ich kenne den Weg nicht.

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