Flucht Küste - © Foto: AFP

Die Küste als Bedrohung: Mahnmal und Mythos

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Schicksale, Gefahren, Naturgewalten: Schon immer galten Küsten als Spiegel menschlicher Katastrophen, die uns wie Wellen immer wieder einzuholen scheinen.

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Schicksale, Gefahren, Naturgewalten: Schon immer galten Küsten als Spiegel menschlicher Katastrophen, die uns wie Wellen immer wieder einzuholen scheinen.

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„In äußerster Nacht / geht in Rauch auf von Grund auf das Meer. / Bleibt allein, sich gleich, / ein Geroll, das sich verliert... / Sich erneuert...“, schreibt der italienische Dichter Giuseppe Ungaretti in seinem Gedicht „Sich gleich“ über jenen Ort, der das Wasser auf Grund laufen lässt und Erde in Wildgewordenes verwandelt: die Küste. Sie ist sich immer gleich und dennoch stets der Metamorphose unterzogen. Sie hat viele Gesichter und kann sich uns als Rias-, Lagunen- oder Mangrovenküste zeigen. Und doch lässt sich dieser Ort mit seinen schwimmenden Grenzen, diesem Überlauf zwischen Festland und Wasser, nur schwer fassen.

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Seit der Flüchtlingsbewegung, die 2015 ein tragisches Ausmaß erreicht hatte – in diesem Jahr erreichten eine Million Menschen die EU –, entscheiden sich wichtige politische und juristische Fragen entlang der Küsten. Ein Bild, das 2015 um die Welt ging, zeigt den leblosen Jungen Alan Kurdi. Sein Gesicht ist in den Sand eingesunken, ebenso seine Knie. Hinter ihm die herannahenden Wellen. Alan, sein Bruder und seine Mutter waren vor dem Bürgerkrieg in Syrien geflohen. Sie starben beim Versuch, mit einem Schlepperboot nach Griechenland zu kommen. Das Foto der türkischen Fotografin Nilüfer Demir ging als Mahnmal der europäischen Flüchtlingskrise in die Geschichte ein. Die weltweite Betroffenheit war groß.

Eine Umarmung und ihre Folgen

Längst hat die EU ihre Seenotrettung praktisch eingestellt und so beteiligen sich immer mehr Nichtregierungsorganisationen an Rettung von Geflüchteten im Mittelmeer. Wie sehr sich das Bild gegen Flüchtlinge gewandelt hat, zeigen Reaktionen auf ein Ereignis, das erst vor Kurzem aufgenommen wurde. Auf einem Foto umarmt die spanische Flüchtlingshelferin Luna Reyes einen weinenden Mann, der die Flucht aus dem Senegal über das Mittelmeer überlebt hat. Reyes wurde für ihre Umarmung in den Sozialen Netzwerken angefeindet.

Sowohl mit dem Bild des Jungen Alan Kurdi als auch mit dem Bild der spanischen Flüchtlingshelferin Luna Reyes wird die Küste zum Ort einer unweigerlichen Inszenierung entlang globaler humanitärer Krisen, die politische Lager trennt. Sie erlebt in Analogie zu den Jahren vor der Frühen Neuzeit eine Renaissance als Ort der Gefahr, der Kälte, des Geheimnisses. Bis in die Frühe Neuzeit hinein war die Küste für ihre angrenzenden Bewohner vor allem ein Tor für einfallende Naturkatastrophen. Sie galt als unbewohnt, karg, mystisch. Naturphänomene wie Ebbe und Flut strengten Küstenkulturen dazu an, sich ein Weltbild zu konstruieren, wonach das Meer als Sammelsurium unheilvoller Mächte galt.

Die Küste erlebt eine Renaissance als Ort der Gefahr, der Kälte, des Geheimnisses, als Zentrum einer unweigerlichen Inszenierung entlang globaler humanitärer Krisen.

Manuela Tomic

Leviathan, die wohl unheilvollste aller Mächte, symbolisiert eine kosmische Unbezwingbarkeit, die der Staatsphilosoph Thomas Hobbes 1651 in seiner berühmten gleichnamigen Schrift mit der Allmacht des Staates vergleicht, die sich heute mit der Omnipotenz der Finanzmärkte fortführen ließe. Auch die jüngsten Naturkatastrophen, Überflutungen, Stürme und Muren hätten in der frühneuzeitlichen Epoche und in jenen davor als das Aufleben der Meeresdrachen und Gottes Zorn auf die Menschen gegolten. Neben Überschwemmungen zeugte die Küste damals auch von Anschwemmungen, die günstig oder ungünstig ausfallen konnten.

So galten tote Wale, die ans Meer gespült wurden, immer als böses Omen. Der Kupferstich des flämischen Künstlers Johan Wierix mit dem Titel „Gestrandete Pottwale am Strand bei Ter Heijde“ aus 1577 etwa erinnert an jene Pressebilder von heute, in denen Tiere vor allem nach Ölkatastrophen zu Hunderten tot an den Strand geschwemmt werden. Das eine böse Omen jagt also das nächste.

Die Küste war lange Zeit auch ein Ort der Gier und Selbstbereicherung. Häufig sind Schiffe mit etlichen Wertsachen vor Küsten untergegangen. So wurden etwa Schmuck, Gewürze oder wichtige Rohstoffe an die Küste gespült und fielen nun jenen in die Hände, die sich zur richtigen Zeit am richtigen Ort befanden. Oftmals wurden die Schiffe in Küstennähe sogar durch Leuchtfeuer irritiert, damit diese auf Grund laufen. Ein Umdenken fand in Europa erst statt, als sich die Seefahrt zunehmend entwickelte und die damit einhergehende Kolonialisierung wirtschaftliche Interessen förderte. In dieser Zeit, genauer 1776, errichtete der britische Seemann und Erfinder William Hutchinson am Formby Point bei Liverpool die erste Seenotrettungsstation. Währenddessen trugen mehrere Organisationen den humanitären Gedanken der Seenotrettung in die Welt. So entstanden die ersten Coast Guards und das, wenn auch ökonomisch geleitete Umdenken, nahm seinen Lauf.

Neben der Küste als Ort, in dem sich Katastrophen abspielen, in dem Leben und Tod unmittelbar aneinander stoßen wie die Wellen auf das Wasser, erlebte die Küste im 18. Jahrhundert eine völlig konträre Inszenierung, die auch heute parallel zu jener Bedrohungsszene besteht. Im Sammelband „Inszenierung der Küste“ von Norbert Fischer, Susan Müller-Wusterwitz und Brigitta Schmidt-Lauber wird die Küste als Bühne der Republik beschrieben. Seit dem späten 18. Jahrhundert zog es aufgeklärte Denker und Publizisten ans Meer. In dieser Zeit entstanden viele Sanatorien, in denen sich einige Intellektuelle einfanden. Durch Küstenmotive, die Menschen bei der Erholung zeigen, romantisch konnotierte Landschaften und dem Aufkommen der Werbeplakate, erlebte die Küste so eine drastische Umwandlung ihrer Funktion.

Motiv der Leistungsgesellschaft

Doch auch diese zeugt nicht unbedingt von einer Befriedung mit der Natur und der Umwelt. Es ist eine neue Welt, in der sich der Mensch die Küste gefügig macht, sie eingrenzt, zähmt und letztlich kapitalisiert. Das Mystische ist dem Streifen entlang des Wassers gewichen und wurde zu etwas Erschlossenem, Offenem. In einer aufgeklärten Zeit war kein Platz mehr für Seeungeheuer und Gottesstrafen. Die Küste entpuppte sich als Ort der Republik, als Ort der Leistungsgesellschaft und letztlich als Ort der politischen Inszenierung von Wohlstand und Urlaub.

Eine Vorahnung schien der niederländische Landschaftsmaler Jan van Goyen bereits 1632 gehabt zu haben. In seinem Bild „Ansicht von Scheveningen“ zeigt er Menschen, die entlang der Küste spazieren, daneben spielende Kinder und hinter ihnen das Meer als friedliches, ruhiges Gewässer. Die Gefahr schien gebannt. „Das leicht bewegte Meer wird zu einer Demonstrationsfläche der Nutzung und Beherrschung des Wassers durch die seefahrende Nation“, schreibt Müller-Wusterwitz im weiter oben erwähnten Buch. Das Wilde, die Unbezwingbarkeit, sind also Motiven der Harmonie gewichen. Doch war diese Harmonie an Europas Küsten nur ein Augenzwinkern der Geschichte? Liegen die Ölkatastrophen, Überschwemmungen und menschlichen Dramen, die sich heute auf Inseln und an Küsten abspielen, nicht jenen mythologischen Auseinandersetzungen näher, die vor der Aufklärung existierten?

Erst im Juli hatte sich das Meer vor Mexiko wegen eines Gaslecks einer Unterwasser-Pipeline in einen brennenden Feuerball gewandelt. Wie hätte man sich diesen wohl in der Mythologie erklärt? Längst sind die Mythen der Wissenschaft gewichen wie die Beherrschung des Wassers, die Beherrschung des Klimas. An den Küsten wird heute der Wasserspiegel gemessen – damit das Meer sich gleich bleibt. Diese unbezwingbare mythische Masse, dieses ewig rauschende Geheimnis.

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