Vergänglichkeit

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Manfred Prisching über sich verändernde Kontinuitäten.

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Manfred Prisching über sich verändernde Kontinuitäten.

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Die roten Kerzen. Allerheiligen. Friedhof. Halloween-Klamauk konkurriert mit Seelengedenken. Die Natur beginnt zu schlafen. Das Weihnachtsgeschäft beginnt zu laufen. Lichtmetaphysik auf den Einkaufsstraßen. Adventsmärkte drohen. Das ewige Leben hat sich in die Erinnerung der anderen zurückgezogen. Auf ewig unvergessen – wer war das doch gleich? Friedhöfe sind bedrohlich: Symbole eines unausweichlichen Endes; und tröstlich: Anstöße zum Bewusstsein der eigenen Unwichtigkeit.

Gräber werden aufgelöst. Asche wird zunehmend nicht mehr beigesetzt, sondern verstreut. Kontinuitäten verschwinden. Schnellere Gedächtnisbeseitigung. Wir schauen hyperdynamisch in die Zukunft, auch wenn wir keine haben. Der Vergangenheitsverlust steht im Widerspruch zum Verlangen nach penibler Lebensdokumentation. Seit Fotos nichts mehr kosten, wird drauflosgeknipst. Man lebt in Bildern, schon vor der Geburt und dann bis zum Tode. Was man nicht dokumentiert, das hat nicht stattgefunden.

Die informationstechnische Fixierung hat ihre Tücken. Einerseits würden manche Leute Teile ihrer Biografie gerne vergessen und umdeuten. Was seinerzeit lässig und cool war, erscheint heute peinlich. Doch die neue Kultur ist schlecht im Vergessen. Auch Vergessen ist eine Kulturleistung.

Andererseits ist das Vergessen am Ende des Lebens viel radikaler: durch Mobilität, Stress, Unaufmerksamkeit. Wenn Allerseelen erst vom Geisterklamauk verdrängt sein wird, schwinden auch die Gedächtnisrituale. Die großen Lebensdokumentationen der meisten Menschen versinken irgendwo in den elektronischen Tiefen, in der Unzugänglichkeit. Gelöscht. Es bleiben nicht einmal die vergilbten Fotos, bei denen man fragen kann: Wer war das doch gleich?

Der Autor ist Professor für Soziologie an der Universität Graz

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