Systemrelevanz

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Was ist wirklich wichtig? Wie die Systemrelevanz von der Zeitdimension abhängig ist.

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Was ist wirklich wichtig? Wie die Systemrelevanz von der Zeitdimension abhängig ist.

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Eine sonderbare Umkehrung: Seinerzeit, in der Wirtschaftskrise, kam dieses Etikett den ­Finanzinstitutionen zu. In der Coronakrise ist die Bezeichnung nach „unten“ gewandert. Zu jenen Arbeitskräften, die schlecht bezahlt und oft prekär beschäftigt sind, die aber trotz Pandemie lebenswichtige Versorgung und Infrastruktur aufrechterhalten haben: Pflegeheim, Krankenhaus, Postbote, Müllabfuhr, Wasserversorgung, Fahrraddienst ... Ein kurzes Aufblitzen der Einsicht, wor­auf es wirklich ankommt. Die Einsicht ist ohnehin wieder geschwunden, wo doch der mediterrane Urlaub und die nächtliche Feier in den Status von Menschenrechten erhoben werden, für welche man durchaus ein paar Leichen tolerieren könnte.

Die Systemrelevanz bezog sich auf unmittelbare Bedrohungen. Wenn kein Wasser mehr aus der Leitung kommt und das Brot knapp wird, dann geht es wirklich um das Überleben. Jenseits davon gibt es zeitlich differenzierte Systemrelevanzen. Es ist irrelevant, Schulen und Universitäten auf drei Monate zuzusperren, aber bei vielen Monaten werden sie systemrelevant. Der Kulturbereich hat „aufgezeigt“, auch wenn man wohl ein halbes Jahr ohne Theater und ein Jahr ohne Museum überleben könnte, zumal in elektronischen Zeiten – aber der Kulturbetrieb gehört, in einem gewissen Ausmaß, zu einer zivilisierten Gesellschaft. Doch auch die Fluggesellschaft und die Autoindustrie geben sich systemrelevant, und am Ende drängeln noch die Eventveranstalter. Denn das Etikett bringt Geld.

Deutungskampf um „Systemrelevanz“: Die existenziellen Erfordernisse werden in wenigen Tagen relevant, manche erst in Monaten oder Jahren – manches bleibt überflüssig. Aber jenseits des harten Versorgungskerns ist Systemrelevanz von der Zeitdimension abhängig.

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