USA: Putsch und Kitsch

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Gedanken über das Wutpotenzial und demokratische Nüchternheit.

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Gedanken über das Wutpotenzial und demokratische Nüchternheit.

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Das Kontrastprogramm hätte nicht beeindruckender sein können: zunächst der halbherzige Putschversuch des scheidenden, dann die auf Vielfalt und Einheit bedachte Inaugurationsveranstaltung des antretenden Präsidenten. Man mag den Ersteren als Dilettantismus, die Letztere als kitschnahes Pathos bezeichnen – es wird doch in beeindruckenden Bildern eine Wahrheit vermittelt, die auch für europäische Länder gilt. Schließlich haben wir es mit einem unstabilisierbaren Italien, mit einem diktaturgeneigten Ost­europa, mit einem verwirrten Britannien und Turbulenzen in Spanien und Frankreich zu tun.

Politik, Staat, Demokratie – da braucht man Institutionen, Gesetze, Verfassung, aber das sind notwendige, nicht hinreichende Voraussetzungen für das Gedeihen. Wenn sich eine Szene von Feindseligkeit und Polarität entwickelt, ein ausschließliches Streben nach Parteitaktik und Übervorteilung, dann bröckelt die demokratische Ordnung. Wenn sich ein ­Potenzial von Wut und Ressentiment immer stärker artikuliert, das thematisch nicht festgelegt ist, ist es zu wenig, die Affekte durch Armut oder Rassismus zu erklären. Denn es mag sich situativ um die Benzinsteuer, um Fremde, um Masken, Impfungen oder anderes handeln. Ausdrucksformen des Ressentiments sind vielfältig zwischen dumpfer Verschwörungstheorie und quasiintellektueller Böswilligkeit. Angesichts beliebiger Themenanheftung muss es sich um tiefer­liegende Triebkräfte und Eskalations­bedingungen handeln.

Für Demokratien bleibt die Hoffnung, dass diesem Wutpotenzial ein hinreichendes demokratisch-nüchternes Substrat (in der deutlichen Mehrheit der Köpfe) gegenübersteht. Die Beimischung von ein bisschen Pathos kann helfen.

Der Autor ist Professor für Soziologie an der Universität Graz.

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